Das Brautkleid

„Hier, nimm.“, sagte Katharinas Vater und gab ihr ein Bündel hellen, fast weißen Stoff. Er war kein Mann großer Worte, geschweige denn zu irgendeiner Gefühlsregung fähig. Katharina sah auf das Bündel, dann auf ihren Vater. Sie hätte ihm so gerne gezeigt, wie sehr sie sich freute, doch ihr strahlender Blick verlor sich in seinen Augen, ohne eine Reaktion hervorzurufen. „Danke!“, sagte sie leise. Er wandte sich ab und ging.

Vorsichtig faltete Katharina den Stoff auseinander, fünfmal, sechsmal, und mit jedem weiteren Mal wuchs ihre Freude. Ja, es war genug. Der Stoff war nicht an allen Stellen gut, er wies Nähte auf, Flecken und kleine Risse, doch wenn man es geschickt anstellte, würde es reichen. Katharina konnte ihr Glück kaum fassen.

Sie faltete den Stoff wieder sorgsam zusammen, nahm das Bündel und lief so schnell sie konnte die Straße hinab ins Unterdorf. Die alte Gitta würde ihr helfen. Früher hatte sie immer die Kleider genäht für die Frauen im Dorf, doch ihre gichtversteiften Finger ließen das nun nicht mehr zu. Aber sie würde ihr sagen können, was zu tun sei.

Katharina stieß die Haustür auf und zog den Kopf ein unter dem niedrigen Türrahmen. „Gitta“, rief sie, „schau, was ich habe!“ Gitta kam aus dem Zimmer nebenan herbei, strich mit der Hand über den Stoff und sah Katharina eindringlich an. „Es wird reichen, nicht wahr, Gitta, es wird reichen für mein Hochzeitskleid. Oh, stell Dir vor, wie sehr Klaus sich freuen wird, wenn er mich darin sieht!“
Gitta schien eine Weile zu überlegen, doch sie verwarf ihren Gedanken und ließ sich den Stoff vollständig zeigen. „Ja“, sagte sie dann, „das ist genug“.
„Hilfst du mir Gitta, bitte, ich möchte es selbst nähen, mein Kleid. Wenn Du mir hilfst, kann ich es schaffen, es sind doch noch zwei Monate, bis Klaus nach Hause kommt. Nicht wahr Gitta, bis dahin bin ich fertig!“ „Natürlich, Mädchen, das schaffen wir schon. Wasch den Stoff gründlich aus und komm dann wieder.“

Zuhause machte sich Katharina gleich an die Arbeit. Sie setzte Wasser auf dem Holzofen an und wusch den Stoff, so gut es ging. Ein wenig Blut war darauf; sicher hatte der Vater sich wieder beim Bäume fällen im Wald verletzt, wie so oft, und nicht darauf geachtet, als er ihr den Stoff brachte. Mit der Bürste und etwas Kernseife schrubbte sie die Flecken heraus. „Ich lasse den Stoff besser in der Scheune trocknen“, dachte sie, „nicht, dass ihn jemand sieht und stiehlt.“ In diesen Zeiten der Armut und des Mangels war sich jeder selbst der Nächste.

Zwei Tage später begann sie mit der Arbeit am Kleid. Die alte Gitta hatte das passende Schnittmuster herausgesucht, das sie nur ein wenig ändern musste. Katharina ließ sich von Gitta zeigen, wie die Nähmaschine bedient wurde und war mit ihren Gedanken nur noch bei ihrem Brautkleid und bei Klaus. Vor einem halben Jahr hatte er sie gebeten, seine Frau zu werden und nun würde es bald so weit sein. In zwei Monaten kam er zurück, zwei Monate, die nun, da sie an ihrem Kleid arbeitete, einen Sinn hatten. Sie würde nicht in dem schwarzen Kleid ihrer verstorbenen Mutter heiraten müssen, welches das einzige „feine“ Kleid im Haus war. Nein, sie würde ein richtiges, weißes Brautkleid haben.

Katharina gab sich alle Mühe, jede Naht sollte perfekt sein. Sie zeichnete das Schnittmuster sorgfältig auf den Stoff, sie rieh die Bahnen vorsichtig aneinander, bevor sie sie nähte und maß immer wieder nach, ob auch alles passen würde. Das Oberteil des Kleides war nach einer Woche fertig und der bodenlange Rock zwei Wochen darauf. Dann nähte sie beide Teile zusammen und als sie das erste Mal mit ihrem Kleid vor dem Spiegel stand, brach sie vor Freude in Tränen aus. „Hübsch bist Du, Mädchen.“, sagte Gitta, „Sehr hübsch.“

Es blieb nun nicht mehr viel zu tun. Katharina nähte die Knöpfe fest und die Schlaufen, um die Knöpfe zu schließen. An dem Tag, als sie mit ihrer Arbeit fertig war, brachte Gitta einen kleinen Karton ins Zimmer. „Das ist für Dich.“, sagte sie. Katharina öffnete den Karton und konnte ihr Glück kaum fassen. Ein Schleier lag darin, den sie von Gittas Hochzeitsfoto kannte. „Danke.“, brachte sie gerührt hervor. Nun war wirklich alles perfekt.

Vier Wochen später kam Klaus endlich nach Hause. Er erzählte nicht viel von dem, was er in den letzten Monaten erlebt hatte. Katharina wollte es auch nicht wirklich wissen. Sie war so überglücklich, dass er Fronturlaub bekommen hatte und dass sie nun endlich heiraten würden.
Am Morgen der Hochzeit ging sie mit ihrem Vater in die kleine Dorfkirche, in der Klaus schon auf sie wartete. Alle Einwohner des Dorfes waren gekommen, um an diesem Ereignis teilzuhaben, eines der wenigen, die noch Glück verhießen.

Katharina betrat die Kirche und sah Klaus vorn am Altar stehen, in seiner Uniform, das Fliegerabzeichen am Revers. Glücklich schritt sie auf ihn zu, während die Gemeinde zur Orgel sang. Klaus sah sie an, wunderschön, wie sie war, in diesem fast weißen Kleid und er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Wie sehr hatte er sich auf diesen Tag gefreut, auf den Moment, da sie sich endlich einander versprachen. Katharina stand nun fast vor ihm, in diesem wunderschönen Kleid, das etwas glänzte und das beinahe so aussah wie aus…

Das Lächeln von Klaus erstarb und er starrte Katharina ungläubig an. Sie erschrak, konnte sein Entsetzen nicht deuten und blickte fragend in seine Augen, in denen sich Tränen sammelten, doch offensichtlich nicht vor Freude. „Klaus?“ Klaus wandte sich ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich gefasst hatte und sie wieder ansehen konnte. Katharina erwiderte verzweifelt seinen Blick. „Das Kleid.“, fragte er, „Woher hast Du es?“ „Ich habe es selbst genäht, für heute, damit Du Dich freust. Vater hat mir den Stoff gebracht.“

Klaus blickte seinen Schwiegervater an, der verschämt zu Boden sah. Katharina verstand nicht, was geschah. „Woher hast Du ihn?“ fragte Klaus und sein Schwiegervater sagte nur „Der verdammte Engländer hat im Baum gehangen damit.“ Katharina verstand immer noch kein Wort. „Das ist Fallschirmseide.“, sagte Klaus. Nur das Militär kommt da dran. Es sei denn, man stiehlt sie einem abgestürzten Soldaten.“ „Der konnte sowieso nichts mehr damit anfangen, der war tot.“, stellte Katharinas Vater fest und wies auf seine Tochter: „Und sie konnte es brauchen.“

Ein stummer Schrei erstarb in Katharinas Mund. Sie lief heim, so schnell sie konnte. Unfähig, in diesem Kleid zu heiraten, dessen Stoff einem fremden Soldaten zum Verhängnis geworden war. Sein Blut war es gewesen, das sie ausgewaschen hatte, sein Blut. Es sollte nicht ein Leben lang an ihren Händen kleben.

Als sie in die Kirche zurückkehrte und Klaus ihr Ja-Wort gab, trug sie das schwarze Kleid ihrer verstorbenen Mutter. Das einzige „feine“ Kleid, das im Haus war.

Du musst eingeloggt sein, um zu kommentieren.