Unentdeckte Welten

Das Kerzenlicht warf einen warmen Schimmer. Sie hatten sich ausgezogen, gefrühstückt und nun lag sie in seinem Arm, vom Badewasser angenehm umschmeichelt. „Lies“, bat er sie und sie las ihm die Geschichte vor, die sie für diesen Moment geschrieben hatte:

„Jacks Hafenbar war der Mittelpunkt der Welt. Seeleute aus aller Herren Länder trafen sich dort, einfache Matrosen, Offiziere und Kapitäne, ja selbst Piraten wagten sich hierher. Es wurde getrunken, gelacht und manches Seemannsgarn gesponnen. Hinter der Theke stand Angel und schenkte das Bier aus, während sich Jack darin gefiel, von Zeit zu Zeit ein Lied anzustimmen. Viele Männer hatten schon versucht, Angels Herz zu erobern, doch sie antwortete stets: ‚Schreibe deine Worte in mein Herz und ich bin dein.‘
Darüber entspann sich Abend für Abend ein Wettstreit, wer die beste Geschichte erzählen konnte. Die einfachen Männer wussten von ihrer Arbeit zu berichten, andere trugen die wildesten Kämpfe mit Seeungeheuern aus und die Piraten vergruben alle Goldschätze der Welt in Verstecken, die nie ein Mensch würde finden können.

Angel hörte sich jede Geschichte an, lächelte hier und da, zog die Augenbrauen hoch oder drückte sie zusammen, schüttelte den Kopf, wenn es zu unglaubwürdig klang, und lobte am Ende jeden Erzähler für die Mühe, die er sich gemacht hatte. Doch sie ging jeden Abend allein nach Haus.

Eines Tages kam ein junger Mann in die Hafenbar, den zuvor niemand dort gesehen hatte. Sein Gang war aufrecht, doch nicht überheblich, seine Statur kraftvoll, seine Augen feurig und zärtlich zugleich. Anders als die anderen Seeleute kam er allein, und er setzte sich nicht an einen Tisch, sondern blieb in Angels Nähe stehen und sah sie an.
Sein Blick verunsicherte sie und so stellte sie ihm ein Bier hin, in der Erwartung, dass er sich dann zu den anderen gesellte. Der junge Mann bedankte sich höflich, machte aber keine Anstalten, seinen Platz zu verlassen.

Langsam wurden die Gäste auf ihn aufmerksam. Es war nicht üblich, dass einer bei Angel stehen blieb. Was wollte der Kerl von ihr? Warum kam er nicht herüber und trank und prahlte und sang wie alle anderen auch? Sie begannen, ihn aufzuziehen: ‚Hey Fremder, lass die Frau in Ruh, komm her und trink mit uns!‘ ‚Stimm mit ein, Jack singt ein Lied!‘ ‚Lass uns von deinen Abenteuern hören!‘

Der junge Mann aber wandte sich nur Angel zu und begann zu erzählen:
‚Ich erträume uns eine Insel am Ende aller Meere, von türkisblauem Meer gesäumt. Ein Berg hütet das Eiland, bewachsen von Pflanzen jeder Art. Der Dschungel ist dicht, doch ich führe dich auf einem schmalen Pfad zum Wasserfall, der sich vom Berg herab ergießt. Auf einem Felsen vor dem Wasserfall lassen wir uns nieder. Ich bitte dich, deine Augen zu schließen, denn meine werden die deinen sein. Ich male dir die Farben der Insel, das Grün des Dschungels, das Blau des Himmels, das bunte Gefieder der Vögel und den perlenden Regenbogen des Wasserschleiers.
Dann dringt mein Flüstern an dein Ohr, leise, damit es die Geräusche um uns nicht übertönt. Den Gesang der Vögel singe ich dir, das Zirpen der Grillen, das Tosen des Falls, zu dessen Füßen ich dich in meine Arme nehme.

Wenn du mit meinen Augen siehst und mein Flüstern hörst, wenn du dich einlassen kannst auf den Zauber des Moments, entkleide ich dich. Ich spüre deinen Atem, fühle das Heben deiner Brüste, nehme deinen Duft in mir auf. Meine Hände erforschen deinen Körper, verweilen hier und dort, wagen sich vor in unentdeckte Welten. Mein ganzer Erdkreis bist du.‘

Angel hatte ihre Arbeit längst unterbrochen. Im Raum war es still. Die Seeleute hatten solche Worte nie zuvor gehört und wussten nicht damit umzugehen. Doch Angel wusste es. Sie legte ihre Schürze ab und ließ sich von dem jungen Mann in seine Welt entführen.“

„Gefällt dir die Geschichte?“, fragte sie.
„Komm her, meine Erzählerin“, antwortete er, setzte sie auf sich, strich den Schaum von ihren Brüsten und küsste sie.
„Na, Seemann, was hast du jetzt vor?“ Sie lachte.
„Wir erforschen unentdeckte Welten.“

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