Das Atmen der Eiche

Der Park war gut besucht, doch niemand beachtete die Frau, die den Weg verließ und auf den Baum zutrat, dessen Flüstern sie vernommen hatte. „Hey, mein Freund“, sagte sie und strich sanft über seine knorrige Rinde. Schritt für Schritt umrundete sie den Stamm und ließ ihre Hand durch die Furchen gleiten und über ein paar Flechten, die sich auf der Wetterseite nährten. Das Sonnenlicht glitzerte im Blätterdach und die herabwachsenden Äste boten Schutz vor ungebetenen Blicken. Die Frau blieb stehen und legte nun beide Hände auf die Rinde.

„Wie viele Geschichten kannst du wohl erzählen?“, fragte sie. Mehrere hundert Jahre stand er hier, hatte Wachsen gesehen und Sterben, Aufbau und Zerstörung, den ewigen Kreislauf des Lebens und der Zeit. „Eine alte Eiche hat viel gesehen“, sagte ihr Vater immer, und wenn er von diesem Baum sprach, klang in seiner Stimme ein tief empfundener Respekt wie vor keinem anderen. Als er sie gelehrt hatte, die Bäume zu unterscheiden, war die Eiche der erste, den sie sicher bestimmen konnte. Die gelappten Blätter, die Eicheln, die Wuchsform. Sie wusste um die Einsatzmöglichkeiten des Holzes für Haus- und Möbelbau und hatte ihren Vater, der Schreiner war, damit umgehen sehen. Wie gut es im Haus roch, wenn er es verarbeitete. Doch dieser Baum hier sollte nicht fallen. Dieser sollte leben und Leben sein.

Die drei Atemzüge, dem Baum Respekt zu zollen, waren getan. Die Frau setzte sich ein wenig auf die Bank unter dem Blätterdach und beobachtete die Menschen im Park, die vereinzelt oder in Gruppen die Sonne genossen. Dann stand sie auf und legte erneut ihre Hände an den Stamm. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, jeder Unbill der letzten Zeit. Die Last des Verlustes, ein Streit hier und dort, Dinge, die der Klärung bedurften und solche, die aus dem Ruder zu laufen drohten. Unvermittelt spürte sie die Anspannung der vergangenen Wochen. Doch mit jedem Ausatmen gab sie die Last ab und ließ Ruhe einkehren. Hier und jetzt war alles unwichtig. Hier und jetzt waren nur sie und die Beständigkeit des Stammes, der, was auch immer geschehen war, die Krone trug. Sicher, gelassen, wissend, dass ihn nichts als grobe Gewalt aus dem Gleichgewicht bringen konnte. „So wie du, will ich sein“, sprach die Frau. Drei Atemzüge und es kehrte Ruhe ein.

Die Frau trat nun an die Wetterseite der Eiche und wieder legte sie ihre Hände an die Borke. In der Bastschicht darunter flossen die Nährstoffe des Bodens durch den Stamm und im Innern bildete dieser das Kernholz aus. Das Leben des Baumes beruhte auf dem Zusammenspiel dieser drei: Der schützenden Borke, der nährenden Bastschicht und dem Kernholz, das die Ereignisse eines jeden Jahres in einem stärkenden Ring festhielt. Es gab die breiten Ringe fruchtbarer Jahre und schmale der entbehrungsreichen. Wenn nun aber der Baum seine Stärke auch aus den harten Jahren ziehen konnte, konnte sie es dann nicht auch? Drei Atemzüge und die Stärke des Baumes sollte ihr Vorbild sein.

„Mach’s gut, mein Freund.“ Die Frau straffte sich und verließ den Park, ruhig und gestärkt. Die nächsten Monate waren nicht einfacher als die davor, doch wann immer sie Anspannung spürte oder Schwäche, dachte sie an das Atmen des Baumes zurück, das zu ihrem geworden war.

Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, legte sie wieder ihre Hände dreimal auf eine Eiche. Und ihre Töchter, die sie dabei beobachteten, fanden nichts Sonderbares daran.

  • Diese Geschichte wirkt so mystisch und zauberhaft, doch ist es nur ein Mensch, der Kraft aus der Natur schöpft. Nur. Was gilt mehr?

  • Die Geschichte des Menschen ist auch die Geschichte des Baumes. Beide sind gleichsam Nutzniesser, Bewahrer und Beschützer. Nur der kleine Unterschied, dass der Baum ohne den Menschen leben kann, nicht aber der Mensch ohne den Baum, macht das Verhältnis der Abhängigkeit bewußt. Das fehlende Bewußtsein erklärt den weltweiten Kahlschlag, das Massensterben der Wälder. In deinem Text schöpft ein Mensch Kraft aus dem Baum. Es sollte mehr Menschen geben, die diese Erfahrung machen. Fein ausgesuchtes Thema und gute Umsetzung meint

    buckj

  • Wunderbar zwischen Deinen Zeilen zu lesen und dabei selbst Kraft zu schöpfen!

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