Der Tag des Drachen I
Der alte Lehrer Chén Liang hatte seine Schüler um sich versammelt. Es war schon später Nachmittag und noch immer zog der Morgennebel gespenstisch durch die Mauern des Klosters. Die heiße Feuchtigkeit nahm den Schülern den Atem. „Heute ist der Tag des Drachen“, sagte Chén Liang. Einige der Schüler nickten wissend, die jüngeren unter ihnen blickten erstaunt oder verängstigt auf ihren Lehrer.
Chén Liang gab Long Wei ein Zeichen und so begann dieser zu erzählen:
„Vor langer Zeit geriet ein Bauernjunge aus den Bergen jenseits des großen Flusses in einen fürchterlichen Sturm und suchte Schutz in einer Höhle. Der Wind drückte sich in den Fels, Donnerkrachen hallte zwischen den Bergen und der Junge konnte kaum etwas erkennen, wenn nicht ein Blitz die Höhle für einen Moment erhellte. Er fürchtete sich sehr und verkroch sich in einer Nische. Die Stunden vergingen, es wurde Nacht und der Junge müde. Er klaubte sich Moos für ein Lager zusammen und zog sich noch weiter in die Höhle zurück. Auf einem geschliffenen Felsbrocken fand er Ruhe und schlief erschöpft ein.
Draußen war es noch dunkel, als der Junge ein leises Klopfen vernahm. Zunächst wähnte er jemanden neben sich, der versuchte, ein Feuer zu entfachen, doch dann spürte er das leichte Vibrieren des Felsens. Erschrocken fuhr er hoch. Das Klopfen wurde lauter, schneller, hörte dann auf, doch nur um erneut zu beginnen. Mit dem Einschlag des nächsten Blitzes erkannte der Junge, dass der vermeintliche Fels ein Ei war. Gefangen von Angst verharrte er einige Minuten, dann strich er vorsichtig um das Ei herum. Aus dessen Innerem war noch immer das Klopfen zu hören, doch die Schale hielt fest. Es musste ein riesiges Tier sein, das sich hier den Weg ins Leben erkämpfte.
Der Junge wusste nicht recht, was er tun sollte. Draußen tobte der Sturm und das Wasser der Berge sammelte sich bereits und riss alles mit sich. Er würde sein Leben verlieren, wenn er sich hinaus wagte. Doch was erwartete ihn hier? ‚Krrk.‘ Ohne sehen zu können, was vor sich ging, wusste der Junge, dass das Ei durchstoßen war. Bald würde das Loch größer und größer werden, dann die Schale springen und schließlich … Er mochte es sich lieber nicht vorstellen und versteckte sich in der Nische am Höhleneingang. Gebannt starrte er von dort aus in die Finsternis. Beinahe wünschte er sich, der Sturm möge noch schlimmer toben und mehr Blitze schleudern, damit er besser sehen könne. Doch mit einem Mal war es draußen vor der Höhle still. Aus der feuchten Erde stieg Nebel auf und vereinigte sich mit den tief hängenden Wolken. ‚Wenn die Wasser des Himmels und der Erde sich vereinen, wird ein Jadedrache geboren‘, hatte sein Vater ihm erzählt, und der Junge hatte tausendmal die Frage gestellt, wie denn das Wasser der Erde zum Himmel steigen könne. Nun sah er es.
Schlüpfte vielleicht aus dem Ei in der Höhle ein Drache? Falls es so war, musste er sich nicht fürchten. Die Legenden erzählten, dass das erste Leben, das ein Jadedrache erblickte, von ihm beschützt wurde ein Leben lang. Und wenn es ein weißer Drache wäre, dann sogar durch die Ewigkeit des Seins. ‚Aber weiß‘, hatte sein Vater gesagt, ‚ist nur einer unter tausend‘.“
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Maultrommler
14. Dez 2011
Ist spannend,man bleibt am Ball, will mehr wissen. Vielleicht kannn man das durch ein bisschen mehr Verknappung noch verstärken? Z.B.: streichen “ doch die Schale hielt fest.Oder z. B. sreichen:Der junge wusste nicht recht, was er tun sollte.Dann schon das :krrk. Nächsten Satz streichen und sofort weiter:Bald würde das Loch größer werden. Damit ist auch gesagt, dass es ein Loch gab.Und die Spannung ist noch stärker. Was meinst Du dazu? Und Nach schließlich direkt: ..er versteckte sich….
Songline
16. Dez 2011
Vielen Dank für deinen Kommentar und die Anregungen. Ich nehme sonst konstruktive Kritik gern auf, aber dieser Text liegt mir am Herzen. Ich schrieb ihn für meine Tochter und sie mag ihn so, wie er ist.