Die Sanduhr
Als Mayla erwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Das Sonnenlicht schimmerte spärlich durch das Blätterdach und sie fand sich auf Moos gebettet. Kein Laut drang an ihr Ohr bis auf das Flüstern des Windes. Sie sah sich um. So weit sie blicken konnte, war der Waldboden mit Moospolstern bedeckt und die Bäume standen dicht an dicht. Dies musste der Zauberwald sein, von dem man sich erzählte und den doch niemand je betreten hatte.
Ein paar Schritte von ihr entfernt wand sich ein Pfad. Mayla stand auf und folgte ihm dorthin, wo es heller zu werden schien. Der Wald lichtete sich und nun säumten auch Farne und Blumen den Weg. Nach einiger Zeit führte der Pfad steil bergab. Mayla setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, damit sie nicht über Felsen und Wurzeln stolperte. Als sie das Rauschen eines Baches wahrnahm, beeilte sie sich, dorthin zu kommen und ihren Durst zu stillen.
Das Wasser war klar und kühl. Mayla ließ es durch ihre Hände fließen. ‚Du läufst mir davon wie mein Leben‘, dachte sie. Eine Weile noch betrachtete sie das Wasser, wie es zu ihr hin und von ihr weg floss. Dann kletterte sie, wie sie es als Kind schon geliebt hatte, entgegen der Strömung über die Felsbrocken, die im Wasser lagen. ‚Im Spiel steht die Zeit still‘, stellte sie fest, als sie innehielt.
Das Rauschen des Baches war lauter geworden und als Mayla nach oben schaute, erblickte sie einen Wasserfall. ‚Ist es möglich …?‘, fragte sie sich. Sie musste es herausfinden. So schnell sie konnte setzte sie ihren Weg fort, bis sie am Fuß des Wasserfalls angekommen war. „Hinter dem Strom liegt die Zeit“, erzählten die Leute, wenn sie vom Zauberwald sprachen und dem geheimnisvollen Bach, der vom Himmel stürzte. ‚Hinter dem Strom …‘ Mayla ging ganz nah an den Wasserfall heran und griff vorsichtig durch ihn hindurch. Ihre Hand ging ins Leere und so wagte Mayla den Schritt hinter das Wasser. Erstaunt blickte sie in einen Gang, an dessen Ende ein Licht schimmerte.
Sollte sie…? Die Frage stellte sich nicht. Ihres Tuns sicher durchquerte Mayla den Gang und gelangte in eine riesige Höhle, deren Wände voller Nischen waren. In der Mitte der Höhle saß ein bärtiger Mann an einem schweren Tisch. Eine Kerze erleuchtete notdürftig seinen Arbeitsplatz. Als er Mayla erblickte, rückte er sein Glas zurecht, machte einen Haken in eine Liste und erhob sich. „Ah, Mayla, sei willkommen. Ich habe dich schon erwartet.“ „Du bist Jorek?“, fragte sie. „Ja, natürlich bin ich Jorek, das weiß doch jedes Kind!“, lachte er.
Mayla wunderte sich, dass ihr alles so selbstverständlich erschien. Sie hatte die Geschichte vom Zauberwald immer für ein Märchen gehalten, doch nun war sie mittendrin und alles war echt. Doch … Wenn es echt war, bedeutete es, dass sie … Vielleicht träumte sie ja doch, ganz bestimmt, sie hatte doch eben erst … da konnte sie doch nicht …
„Mayla?“, fragte Jorek. „Ich kann nicht tot sein, ich habe eben erst …“, stammelte sie. „Niemand ist tot, Mayla, auch du nicht“, antwortete Jorek, „Komm“. Aufmunternd hielt er ihr seine Hand entgegen. Mayla suchte Halt und ergriff sie. Von nun an wusste sie nicht, was auf sie zukommen würde. Die Leute erzählten vom Zauberwald und vom Bach, der vom Himmel fiel, und von Jorek und der Zeit und den Uhren, aber mehr erzählten sie nicht. Die Uhren! Jetzt erst nahm Mayla die Sanduhren wahr, die in den Nischen der Höhle standen. Unzählige waren es, große und kleine, uralte und neuere, und der Sand aus aller Herren Länder rieselte durch sie hindurch.
Jorek geleitete Mayla an die hintere Höhlenwand. Dort stieg er auf eine Leiter, entnahm der oberen Nische eine Sanduhr und übergab sie ihr. Der Sand befand sich vollständig im unteren Kolben. „Sie rieselt nicht mehr!“, stellte Mayla fest. „Ja“, sagte Jorek. „Also bin ich tot?“ Mayla blickte ihn verzweifelt an. „Nein“, stellte Jorek fest, du bist nicht tot, du bist nur nicht mehr in deinem alten Leben.“ Mayla spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Sei unbesorgt. Schau, der obere Kolben ist leer, das ist das Leben, aus dem du gegangen bist. Aber du bist nicht tot, siehst du, du bist wie der Sand, der nun im unteren Kolben verweilt. Sobald du die Uhr umdrehst, gehst du in ein neues Leben und so wiederholt es sich immer für alle Zeit.“
Mayla dachte nach und schwieg. „Wenn ich die Uhr umdrehe, werde ich neu geboren?“, fragte sie dann. „Ja“, antwortete Jorek, „du drehst die Uhr und gibst sie dabei in meine Hand. Ich stelle sie an deinen Platz in die Nische.“ „Immer für alle Zeit?“, fragte Mayla. „Immer für alle Zeit“, antwortete Jorek.
Mayla atmete durch. Es war gut so. Und so nahm sie die Uhr, drehte sie in Joreks Hand und mit dem Rieseln des ersten Sandkorns war sie aus der Höhle verschwunden.
Mumpitz
5. Dez 2011
Ein wunderschönes Bild vom ewigen Leben, eine Parabel, die uns die Abwegigkeit der Endlichkeit des Lebens begreiflich macht.