Flüsterwind
Clare schlief unruhig. Gedankenfetzen rissen sie aus dem Schlaf, Worte tanzten vor ihren Augen, bis sie sie in eine Dose zwang und den Deckel schloss. Leer wollte sie sein, nicht mehr über den Streit nachdenken, der zwischen ihnen lag. Ihre Hand strich über sein Kopfkissen. „Ich wünschte, du wärest hier“, flüsterte sie, küsste ihre Fingerspitzen und gab mit der Hand diese Zärtlichkeit für ihn auf die Reise, wie sie es immer tat, bevor sie einschlief. Ihr Atem ging nun ruhiger, tiefer.
Im Traum lächelte sie. Sie sah eine Pflanze hoch oben im Gebirge im Spalt eines Felsens wachsen. Dort sammelten sich Erde und Wasser, die Vorsprünge des Felsens schützen sie vor Sturm und Orkan, so dass die Pflanze wuchs und aufblühte. „Du bist mir Halt und Schutz“, sagte sie zum Felsen, und: „Ich fühle mich wohl mit dir.“ „Ich bin niemand, mit dem man sich wohl fühlen kann“, antwortete dieser. „Und doch tue ich es“, widersprach sie ihm. Dem Fels blieb die Entwicklung der Pflanze nicht verborgen. Er sah, wie sie wuchs, er spürte, wie ihre Wurzeln an ihm Halt fanden, und heimlich erfreute er sich an ihren Blüten. Sie war da. Sie war einfach da. Und sie sah ihn anders, als die Felsen um ihn herum ihn bisher gesehen hatten.
Eines Nachts, während die Pflanze ihre Blüten geschlossen hatte, trug der Wind ein Flüstern zum Felsen. „Ich kenne schönere Pflanzen als sie“, raunte er. „Sieh nur ihr struppiges Grün, die winzigen Blüten, sie gaukelt dir Schönheit vor und besitzt sie doch nicht.“ „Sie hat ihre eigene Schönheit“, widersprach der Fels. Doch der Wind kam Nacht für Nacht zurück. So verlor der Fels mit der Zeit die Freude an der Pflanze. „Ich kann Orkan werden und sie fortreißen“, lockte ihn der Wind. Als der Fels nicht sofort widersprach, kam Sturm auf und zerrte mit aller Macht an den Wurzeln der Pflanze.
„NEIN!“ Clare schrak auf. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie wusste, die Pflanze würde ohne den Felsen verdorren, wenn der Sturm sie jetzt losriss. Clare wagte es nicht, ihre Augen wieder zu schließen. „Nicht“, flüsterte sie, „nicht.“ Wieder strich sie über sein Kissen. „Bitte lege den Wind“, bat sie, „bitte lege den Wind. Lass Fels und Pflanze nicht ohne einander sein.“
Sie dachte an den Streit mit ihm. Und doch küsste sie ihre Fingerspitzen und gab mit der Hand diese Zärtlichkeit für ihn auf die Reise, wie sie es immer tat, bevor sie einschlief.
Mumpitz
15. Jan 2012
Solche Träume in Worte zu fassen stelle ich mir gar nicht so einfach vor. Der Text ist spannend, spiegelt die Gefühle sehr intensiv wieder. Mir ging es so, dass ich während des Lesens nach Identifikation suchten, jedoch nicht wusste, in wen ich mich hineinversetzen sollte: in die Pflanze, den Fels, in Claire oder in den Wind?
Songline
16. Jan 2012
Hallo Mumpitz, das mit der Identifikation ist gut, sie ist nämlich für den Leser nur schwer möglich. Folgt man Maultrommler, ist Clare zugleich die Pflanze, insofern schränken sich die Identifikationsmöglichkeiten weiter ein. Ich lasse es mal offen 😉
Maultrommler
16. Jan 2012
Wie die Gefühle des Wachzustands im Traum weitergehen und eskalieren und dann aus Furcht vor der endgültigen Trennung das Bewusstsein in den Wachzustand zurück flüchtet,finde ich spannend geschrieben und dass offen bleibt, ob sie wieder einschläft, ebenfalls.
Songline
16. Jan 2012
Danke, Maultrommler, du hast sehr gut eingefangen, worum es geht. 😀