Das Erbe der Väter
Ndulus Beine baumeln vom Waggon des Zuges. Nachdenklich blickt er auf die Weite der Landschaft, den Fluss, dem die Schienen folgen, und er ahnt das Gestern dort, wohin die Rauchschwaden ziehen. Kein Blick zurück. Nach Westen will er schauen, dem Ozean zu, dem anderen. Nicht jenem, den sein Großvater Adofo als Kind eingepfercht im Bauch eines Schiffes überquerte, in Ketten, Exkremente und Sterben um ihn herum. Vorbei, nicht vergessen.
Adofo war längst erwachsen, als sie ihn frei nannten. Frei von Ketten, frei von Schikane, frei von den Befehlen des Vorarbeiters der Plantage. Frei. Adofo besaß nicht mehr als die Kleidung auf seinem Leib und den notdürftigsten Hausrat. Er sah auf seine Frau, seine Kinder, und gehorchte weiterhin seinem Herrn, der seine Arbeitskraft mit Wohnung und Nahrung entlohnte, wie es immer war. Die Peitsche blieb an der Scheunenwand.
Adofos Sohn Sekou besuchte die Schule und ging fort. Er hätte ein guter Schreiner werden können, doch niemand wollte dem Sohn eines Sklaven Lehrmeister sein. „Im Norden“, dachte er, „im Norden.“ Hatten nicht die aus dem Norden für die Freiheit seines Vaters gekämpft? Sekou sprang auf den Waggon eines Zuges. Das monotone Rumpeln begleitete ihn durch Herrenland. Weit war der Weg, weit. Eines Nachts, der Zug hielt, um Kohle und Wasser zu laden, kamen die Reiter, zwei Dutzend oder mehr. Sie umstellten den Zug, errichteten ein Kreuz und zündeten es an. Dann durchsuchten sie Wagen für Wagen und trieben die Schwarzen vor dem Kreuz zusammen. Gespenstisch sahen sie aus in ihren weißen Umhängen, die Gesichter unter Kapuzen verborgen, Gewehre in der Hand. Einer kam mit der Peitsche auf die fünf Männer zu, die angststeif auf den Klan starrten. Kein Entkommen aus dem Kreis der Teufel. Die Nacht war schmerzend lang und endete am Morgen mit dem Tod der fünf.
Ndulus Blick trifft kein Ziel mehr. Er zieht die Beine in den Waggon, schließt die Augen und überlässt sich dem Schaukeln des Zuges, der ihn wiegt, wie seine Mutter es tat. Beinah noch hört er das Lied, das sie ihm in Kindertagen sang, voll Klage und Sehnsucht nach Freiheit. Auch sie hätte gehen können, wie ihr Bruder. Doch sie blieb und versorgte Adofo und seine Frau auf dem kleinen Stück Land, das ihnen der Gutsherr zugewiesen hatte. Ihren Körper hatte es sie gekostet, dass sie bleiben durften, auch als ihre Eltern nicht mehr arbeiten konnten. Nur ein Jahr lang quälten sich beide in den Tod, ungewiss über das Schicksal ihres Sohnes und beschämt über das Opfer ihrer Tochter, deren Tun sie ihr Dach verdankten. Nachdem sie ihre Eltern begraben hatte, nahm Alima ihr Bündel und fuhr mit dem Kind unter ihrem Herzen nach Nordost, an die Küste des Ozeans, der in das Land ihrer Vorfahren wies.
Betty nahm sie auf. Sie betrieb ein kleines Hotel und war die Hebamme des Ortes.
„Wie heißt du?“, fragte sie.
„Alima. Sie nennen mich Alice.“
„Weißt du, was Alima bedeutet?“
„Ja, es bedeutet ‚milde, menschlich‘. Der Name meines Vaters war Adofo, das bedeutet ‚einer, der liebt‘. Sie nannten ihn Bob.“
Betty nickte. „Der Name deines Kindes soll von seinen Wurzeln erzählen, wie es deiner und der deines Vaters tut“, sagte sie.
Als Alima ihren Sohn zur Welt brachte, der zweier Völker Spuren trug, nannte sie ihn ‚Bruder‘.
Ndulu erwacht, als der Zug durch einen Tunnel fährt. Halbblut. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Die Wurzeln der Mutter jenseits des Wassers, die des Vaters … Alima hatte ihm den Namen genannt und den Ort, wo er ihn finden würde. Er hatte kein Verlangen, ihn zu suchen.
Sie nannten ihn „Nick“. Die Gäste im Hotel, die Kinder in der Schule, die Lehrer, der Pastor, alle im Dorf. Alle außer Betty und Alima. Ndulu. Nick. Fisch und Fleisch und keins von beidem.
Als der Brief kam, wollte er ihn nicht sehen. Doch Alima bestand darauf. So gütig sie war, so bestimmt konnte sie sein, wenn es darauf ankam. „Lies“, sagte sie.
Sein Vater war schwerkrank und wollte ihn sehen.
„17 Jahre!“, schrie er, „17 Jahre, und ein Fremder ruft einen Fremden zu sich. Wozu?“
„Frag ihn, nicht mich.“ Alimas Blick war ernst.
Und so nahm Ndulu das Geld für die Fahrkarte und machte sich auf den Weg.
Nur noch ein paar Meilen bis Olympia, von dort nicht mehr weit bis zum Meer. Ndulu wird sein Ziel erreichen, anders als sein Onkel Sekou. Das Morden geht weiter, aber nicht hier, nicht jenseits der Bergkette, hinter der das Sonnenlicht das Leben in Freiheit taucht.
„Nick.“ Das war alles, was er sagte.
„Das Laken passt zu dir, fehlt nur noch die Kapuze“, antwortete Ndulu, wandte sich ab und ging.
Am Grab seiner Großeltern legte er eine Rose nieder, wie Alima ihn gebeten hatte. Dann verneigte er sich und ließ sein Erbe unangetastet zurück.
„Liebe Mutter“, las Alima, „ich halte die Muschel von den Gestaden Afrikas in Händen, Adofos Zeugnis seiner Herkunft. Ich bewahre den Stein von der Küste Massachusetts, rundgeschliffen vom Ozean deiner Sehnsucht. So stehe ich am Strand des Pazifiks, am Ziel meines frei gewählten Weges.
In Liebe, Ndulu“
Als Betty den Raum betrat, fand sie Alima lächelnd am Ofen sitzen.
enja
5. März 2012
Uff! Ich bin platt (im positiven Sinne 🙂 ). Du hast jede Menge erzählt und wirklich einschneidende Erlebnisse, nicht nur Ndulus, erzählt. Ich fühlte mich nach dem letzten Satz, als müsste ich einen dicken Roman zuklappen. Eigentlich schade, dass du deinen Protagonisten „nur“ eine kurze Geschichte zugestanden hast.