Der Fund im Forst

„Verdammt nochmal!“ Mucke fluchte laut vor sich hin, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt hatte. Es wäre besser gewesen, Rocky nicht von der Leine zu lassen, aber er konnte doch nicht damit rechnen, dass der Pit Bull ihm einen Fuß anbringen würde. Aus der Ferne hatte er es für ein Teil einer Schaufensterpuppe gehalten, aber nun, da Rocky unmittelbar vor ihm stand, blickte Mucke auf ein Stück Fleisch mit seltsam verformten Zehen. Übelkeit stieg in ihm hoch und er wandte sich ab. Rocky ließ sich davon keineswegs beirren und sprang schwanzwedelnd um ihn herum, so dass Mucke der erneute Anblick einzelner Sehnen, Muskeln und hervorstehender Knochen nicht erspart blieb. „Rocky! Aus!“ Der Hund gehorchte aufs Wort und legte seinen Fund ab.

Mucke entfernte sich ein paar Schritte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die Polizei war ihm auf der Spur, da konnte er unmöglich diesen Fund melden. Erstens würden sie ihn dann verhaften und ihm zweitens womöglich noch einen Mord anhängen, wo er doch nur …
„Stopp“, unterbrach Mucke seinen eigenen Gedankenstrom. Gehörte der Fuß überhaupt zu einer Leiche? Eigentlich sah er ja noch recht frisch aus, als ob er eben erst … Hatte etwa Rocky …? Mucke ging zurück und betrachtete den Fuß genauer. Die Abdrücke von Rockys Zähnen waren deutlich zu erkennen, kein Wunder, schließlich hatte er den Fuß hierher gebracht, wie er es sonst mit dicken Stöcken tat. Aber es sah nicht so aus, als hätte Rocky den Fuß abgetrennt. „Gottseidank“, schoss es Mucke durch den Kopf.

Was nun? Eines war klar: Der Fuß musste weg. Mucke konnte ihn unmöglich mitten auf dem Weg liegenlassen, wo auch Familien mit Kindern spazieren gingen. Die würden sich zu Tode erschrecken. Das Beste wäre, Rocky brächte den Fuß dahin zurück, wo er ihn gefunden hatte. Aber wo zum Teufel war das? Mucke ließ Rocky an dem Fuß schnüffeln und befahl: „Such!“ Leider war der Pit Bull kein ausgebildeter Spürhund und so blieb er einfach schwanzwedelnd sitzen, was Mucke zu einem erneuten „verdammt“ veranlasste.

Mucke sah sich um, rupfte das riesige Blatt einer Waldstaude ab, hob den Fuß damit hoch und ging in die Richtung, aus der Rocky gekommen war. Dieser trottete brav neben ihm her, bis er plötzlich scharf nach rechts ins Unterholz abbog. Dann bellte er kurz. Mucke kämpfte sich durch tiefe Äste und Gestrüpp. Auch wenn er die Leiche nicht finden würde: Hier konnte er zumindest den Fuß loswerden. Als er Rocky erreichte, stockte ihm der Atem. Neben dem Hund lag, nur mit Unterwäsche bekleidet, ein Mann, der aufstöhnte, als er Mucke erblickte. Dem blieb nun keine Wahl mehr: Er nahm sein Handy und wählte den Notruf. Dann wandte er sich wieder dem Mann zu.
„Keine Angst, gleich kommt Hilfe. Mucke zog seinen Gürtel aus den Hosenschlaufen und band dem Mann das Bein ab, um die Blutung zu stillen. Dann legte er ihn auf die Seite und tastete nach dem kaum spürbaren Puls.
„Gerhard Berger“, flüsterte der Mann. „Ich bin Gerhard Berger.“
„Ganz ruhig, Herr Berger, strengen Sie sich nicht an.“
„F 40, 100.000, Schneider.“
„Nicht sprechen, schonen Sie Ihre Kräfte.“
„Überfall.“
„Bleiben Sie ruhig, gleich kommt Hilfe.“
Herr Berger stöhnte auf.
„Oh, wie konnte ich das nur vergessen. Ihnen ist kalt, oder?“ Mucke zog seine Jacke aus und legte sie Herrn Berger über.
„F 40, 100.000, Schneider“, stammelte dieser und wurde bewusstlos.

Mucke brachte Rocky auf den Weg und ließ ihn dort ablegen, damit der Notarzt Herrn Berger finden konnte. Als er zu diesem zurückkehrte, fühlte er keinen Puls mehr. Während Mucke noch überlegte, ob er mit einer Herzmassage beginnen sollte, kamen die Rettungskräfte. „Er heißt Gerhard Berger.“ Mehr konnte Mucke nicht sagen. Die ganze Situation hatte ihn doch ziemlich überfordert. Erst der Fuß, dann der halbnackte Herr Berger, jetzt dessen Leiche – so hatte sich Mucke seinen Vormittag nicht vorgestellt . Als die Sanitäter den Defibrillator brachten, kroch Mucke aus dem Unterholz. Das musste er sich nicht auch noch ansehen. Er nahm Rocky an die Leine und machte sich auf den Weg nach Hause. Dass Herr Berger wiederbelebt und mitsamt seinem Fuß ins Krankenhaus gebracht wurde, bekam Mucke schon nicht mehr mit.

„Überfall im Forst!“ prangte am nächsten Morgen von der Titelseite der Tageszeitung. „Wer schlug dem Opfer den Fuß ab? Zeuge dringend gesucht!“ Mucke legte 50 Cent auf den Tresen des Kiosks und wunderte sich zuhause über die Berichterstattung. Demnach war der Geschäftsmann Gerhard B. am Vortag nackt im Wald aufgefunden worden und lag nun im Koma. Offensichtlich handele es sich um einen Überfall, denn man habe ihm die Zehen gebrochen und anschließend den Fuß abgehackt. Der Zeuge, der das Opfer gefunden habe, werde gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. „Ihr könnt mich mal“, dachte Mucke, „der Kerl ist versorgt und gut.“ Zum Tathergang konnte er ja wirklich keine Angaben machen. Die Reporter wussten auch noch zu berichten, dass Herr B. am Vortag 100.000 Euro von der Bank abgeholt habe und von dem Geld nun jede Spur fehle. „100.000“, dachte Mucke, „die könnte ich auch gebrauchen.“ Und er fragte sich, wie jemand so blöd sein könne, mit so viel Bargeld durch die Gegend zu laufen.

Dann fiel ihm das Gestammel von Herrn Berger wieder ein. „F 40, 100.000, Schneider“, hatte er gesagt. F 40? Ein Ferrari? Wollte Herr Berger ein Auto kaufen und hatte deswegen so viel Geld bei sich? Man hörte doch jetzt so viel von Betrügern, die arglose Interessenten zur Probefahrt einluden und dann ausraubten. Muckes kriminalistisches Gespür erwachte. Er recherchierte im Internet und fand tatsächlich einige F 40, die zum Verkauf standen, davon zwei ganz in der Nähe. Mucke packte ein paar Sachen in seinen Rucksack, machte sich auf den Weg zu einer öffentlichen Telefonzelle und rief die Verkäufer an. Beim zweiten hatte er Glück.
„Schneider“, meldete sich der Mann am anderen Ende.
„Das mit dem Fuß war ein Fehler“, sagte Mucke.
Herr Schneider schwieg einen Moment. Dann fragte er: „Was wollen Sie?“
„Die 100.000 und den Wagen.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
„Die Polizei wird es wissen.“
„Wer sind Sie?“
„Das tut nichts zur Sache. Bringen Sie den Wagen in das Parkhaus am Hauptbahnhof. Packen Sie das Geld in einen Stoffbeutel, den Beutel in einen Aktenkoffer. Mit dem Koffer gehen Sie zur Herrentoilette unter Gleis 3. Verbergen Sie den Beutel dort im Papiermüll und steigen Sie mit dem Koffer in den Zug um 10.55 Uhr nach Köln. Wenn ich Sie nicht abfahren sehe, rufe ich um 10.56 Uhr die Polizei an.“
„Sie sind ja verrückt!“ Herr Schneider wurde laut.
„Sie haben noch 25 Minuten, um zum Bahnhof zu kommen.“ Mucke legte auf und schlenderte binnen zehn Minuten zu seinem Ziel. Aus einem sicheren Versteck heraus beobachtete er gespannt die Herrentoilette. Er musste nicht lange warten. Schon bald darauf kam ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer, ging hinein, kam wieder hinaus und stieg dann die Stufen zu Gleis 3 hinauf. Mucke wartete, bis der Zug nach Köln abgefahren war, und holte das Geld aus der Toilette.
„Venedig bitte“ sagte er auf die Frage des Schalterbeamten, wohin er denn fahren wolle.
„Mit Rückfahrt?“
„Ja, mit Rückfahrt. Ich bleibe eine Woche.“
„141,30 Euro bitte. Die Rückfahrt ist ein Sparpreis. Der Zug geht um 11.31 Uhr von Gleis 7.“
Mucke zahlte, ging zu den Telefonen und rief die Polizei an. „Im Bahnhofsparkhaus steht ein Ferrari F 40.“
„Ja, und?“, fragte der Beamte.
„Ich wette, da stimmt was nicht. Haben Sie schon mal einen Ferrari in einem Bahnhofsparkhaus gesehen? Der Kerl, der da ausgestiegen ist, sitzt im 10.55 Zug Richtung Köln.“
„Und wer sind sie?“
„Der Penner, der den Kerl gesehen hat.“ Mucke legte auf, ging zum Bahnsteig und stieg in den Zug Richtung Venedig.

„Das gibt`s doch nicht!“, rief Kalle aus und Rocky spitzte die Ohren. „Weißt du, wo Mucke ist? In der Karibik!“ Kalle drehte die Postkarte in seinen Händen und atmete erleichtert aus. Er hatte sich schon Sorgen gemacht. Seit dem Tag, als Mucke seinen Hund ausgeführt hatte, hatte er nichts mehr von ihm gehört. Aber die Polizei war da gewesen und hatte gefragt, wo Rocky an diesem Tag gewesen war und ob Kalle etwas von dem Überfall im Forst wisse, was er verneinte. Dann waren Reporter gekommen und hatte ihm überall aufgelauert. Schließlich stand ein Herr Berger vor der Tür und bat darum, Rocky ansehen zu dürfen. Der Pit Bull hatte ihn schwanzwedelnd begrüßt.
„Ohne Ihren Hund wäre ich tot“, hatte Herr Berger erzählt. „Ich wollte einen F 40 kaufen und nahm die Anzahlung mit zur Probefahrt. Wir fuhren auf die Autobahn und durch die Stadt, bis Herr Schneider in den Forst abbog und sagte, er müsse mal ein Geschäft erledigen. Als ich auch ausstieg, schlug er mich nieder, schleppte mich ins Gebüsch und zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Ich war halb bewusstlos und bekam kaum mit, dass er mir den Fuß abschlug, wohl damit ich nicht fliehen und ihn verraten konnte. Hätte Ihr Hund nicht mit dem Fuß Hilfe geholt, wäre ich wohl zu spät gefunden worden. Ich habe viel Blut verloren, wissen Sie?“
„Das kann ich mir denken.“
„Ich habe einige Erinnerungslücken, aber ich weiß noch alles bis zu dem Moment, als der Hund kam. Die Polizei hat Herrn Schneider und den Ferrari gefunden, aber mein Geld nicht. Wissen Sie, das Geld ist mir egal, Hauptsache, ich lebe. Ich möchte mich dafür erkenntlich zeigen, dass ihr Hund mich gerettet hat.“ Mit diesen Worten hatte Herr Berger Kalle einen Umschlag überreicht und ihm zugezwinkert. „Es sind 9.900 Euro. 10.000 Euro müssten gemeldet werden, Sie wissen schon, Geldwäschegesetz. Ich hoffe nur, dass man den Mann findet, der den Ferrari im Bahnhofsparkhaus gemeldet hat. Durch ihn ist die Polizei auf die Spur von Herrn Schneider gekommen. Ich würde mich auch gern bei ihm bedanken.“ Mit diesen Worten hatte sich Herr Berger verabschiedet.

„Mensch, Mucke!“ Kalle wendete die Postkarte mehrfach hin und her. Auf der Vorderseite war ein Palmenstrand, auf der Rückseite stand: „Ich lege die Füße hoch. Grüß Rocky. Mucke“ Wie immer es der Kerl angestellt hatte, das Dankeschön von Herrn Berger war wohl bei ihm angekommen.

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