Schutzschild

Eines Tages erklomm eine Frau die dreimal tausend Stufen zur Hütte des alten Lehrers Chén Liang, der in den Bergen jenseits des großen Flusses lebte. Oberhalb des Nebeldorfes ruhte sie zunächst an der Brücke, bevor sie die letzten Meter zurücklegte und den Meister um einen Rat fragte.

„Weiser Chén Liang“, bat sie, „erzähle mir von den Menschen.“
Der Meister schwieg und sie bemerkte, dass ihre Frage zu allumfassend war. Also versuchte sie es anders: „Ich sah einen Menschen zugewandt und abweisend, weich und hart. Es ist, als drehe er sich wie ein Fahne im Wind.“

Der Meister nahm eine Walnuss aus der Tasche und bewegte sie langsam in seiner Hand. Dann öffnete er sie vorsichtig, nahm die Nuss heraus und wies der Frau das herzförmige Innere der Schale.

„Der Menschen Leben verhärtet ihr Äußeres zu Holz. Abweisend scheint es und undurchdringlich, doch bewahrst du es und lässt es sein, gibt es sein Inneres frei.“

„Ich sah ein Inneres, doch die Schale schloss sich wieder.“

„Verletzlich ist das Herz und es fürchtet jedes Staubkorn, das sich in ihm niederlässt. So kehrt sich die Schale zuoberst, damit niemand es erkennt. Manche bildet gar eine Schicht aus Schein, vermoost, verflechtet, gräbt ihr Inneres ein.“

Nun war es die Frau, die lange schwieg, bis sie gedankenverloren mit dem Finger über die Schale strich.
„Vergiss nie: Das Holz und das Herz sind eins.“ Der Lehrer ließ die Schale in ihre Hand gleiten und erhob sich.
„Bedeutet das, seine Angst geht nie fort?“

Doch Chén Liang sagte kein weiteres Wort.

  • Eine schöne Geschichte, die zum Mitdenken einlädt.Der Titel sagt bereits, die Schale ist ein Schutzschild, aber nicht, weil der Kern, das Herz , Angst hat, wir sagen doch, jemand fasst sich ein Herz, was heißt, er nimmt seinen mut zusammen. Wie bei der Walnuss ist die Schale des Herzens Ausdruck der Klugheit der Natur, denn das Herz ist verletzlich.
    Interessant finde ich, dass das Innere der Schale herzförmig ist und der Kern an ein Menschenhirn erinnert, so nah liegen und wirken Herz und Hirn zusammen.Deine Geschichte ist, wie das Schweigen am Ende, eine Einladung, mitzudenken.

    • Vielen Dank für dein schönes Mitdenken. Einen Gedanken habe ich etwas anders: Wenn das Herz oft genug verletzt wurde, bekommt es Angst, dass es wieder passiert. Von daher ist die Versuchung, dann die Schale nach außen zu kehren, verständlich.
      Manche drehen sich, andere nehmen um der Gefühle willen die Gefahr in Kauf.

  • „Das Herz und das Holz sind eins.“
    Sprengst du die Schale, ist die Nuss keine Nuss mehr. Doch der Kern ist ein Samen, aus dem neue Sträucher wachsen. Das Herz wartet darauf, freigelegt zu werden, damit es lieben kann.

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