Ariks Reise (1)
Ich wurde im Land der Riesen geboren, unter den Wurzeln der Eiche im Wald von Kamar. Drei mal dreißig Monde lang bereitete mich mein Vater darauf vor, den Wald zu verlassen und in das Land unserer Vorfahren zu gehen. Ich lernte die Sprache des Wassers und des Windes. Die Wege der Sonne und der Sterne wurden mir vertraut, und als ich mich selbst ernähren konnte und gelernt hatte, dass es besser ist, einen Kampf zu vermeiden als ihn zu führen, nickte mein Vater mir zu. „Nun bist du alt genug“, sagte er. „Wenn deine erste Wunde verheilt ist, wirst du in das Land unserer Vorfahren aufbrechen.“ Meine Mutter sah sorgenvoll zu uns herüber, doch sie schwieg. „Vater“, fragte ich, „ich habe schon einige Narben davongetragen, welche Wunde muss ich erleiden, dass du sie meine erste nennen wirst?“ „Eine, von der du denkst, dass sie dich bricht“, antwortete er.
Bald darauf jagten wir Fische am Bach, als ein Riese uns erspähte. „Versteck dich!“, rief mein Vater und jeder von uns duckte sich hinter einen Felsblock. Doch der Riese lachte nur, hob meinen Felsen hoch wie einen Kieselstein und ließ ihn dann auf mich zurück fallen. Ich sprang zur Seite, doch mein Fuß wurde unter dem Felsen eingequetscht und ich zappelte hilflos im Wasser. „Stell dich tot!“, hörte ich meinen Vater rufen und befolgte seinen Rat. So ließ der Riese von mir ab und wandte sich nun ihm zu. Ich weiß nicht, was geschah, denn ich hielt die Augen geschlossen, doch ich hörte den Aufschrei meines Vaters und das höhnische Lachen des Riesen. Dann war es still. Als ich die Augen öffnete, trieb der tote Körper meines Vaters blutüberströmt an mir vorüber.
Der Auftrag
Meine Freunde fanden mich in der Dämmerung des nächsten Morgens. Sie hoben den Felsblock an, versorgten meinen Fuß und geleiteten mich nach Hause. Als meine Mutter mich ohne meinen Vater heimkommen sah, schnürte sie mein Bündel und sprach:
„Im Schmerz ruft dich das Land unserer Ahnen, woraus wir vertrieben. Kehre nun zurück, auf dem Weg, der entsteht, wenn du ihn gehst. In den Wurzeln der Eiche wurdest du geboren, tausend Eichen wirst du grüßen und die letzte soll das Ziel deiner Reise sein. Was dein Vater dich lehrte, schütze dich in Gefahr. Wo immer du bist, werde ich bei dir sein, im Rauschen der Wassers, im Flüstern des Windes und im wärmenden Strahl der Sonne.
So ist die Prophezeiung: ‚Einer wird kommen und die Nachkommen einen, auf dass sie das Land ihrer Vorfahren wieder in Besitz nehmen und befreien von Fluch und Ungemach.‘ Ob du Führer bist oder Krieger, erweist sich auf deinem Weg. Mache dich auf und gehe mit meinem Segen.“
Ich umarmte meine Mutter, verneigte mich vor dem Ort meiner Geburt und setzte Schritt auf Schritt in die Richtung, die sie mir wies.
Der Salm
Das Land der Riesen war mir vertraut. Im Vibrieren der Erde erkannte ich Gefahr und zog die Deckung dem Kampf vor. Ein Geschickter meiner Art hatte einst einen Riesen besiegt, aber viele waren gefallen. Unser Volk trauerte um jeden von ihnen, denn wer in der Fremde fiel, war für das Land unserer Vorfahren verloren.
In den ersten Tagen der Reise ernährte ich mich von der Wegzehrung, die meine Mutter mir mitgegeben hatte. Dann sammelte ich Beeren und erlegte Eidechsen. Mein Nachtlager schlug ich stets unter den Wurzeln einer Eiche auf, verborgen von Moos.
Am vierten Tag musste ich einen Fluss überqueren. Ich suchte am Ufer nach einer Furt, doch das Wasser war überall tief. Ich überlegte, mich auf einem Stück Holz treiben zu lassen, doch stünde flussabwärts ein Riese im Wasser, wäre dies mein Verderben. Während ich auf einem Fels meine missliche Lage bedachte, hörte ich plötzlich die Stimme eines Salms: „Was sitzt du so trübe auf dem Fels?“, fragte er.
„Ich bin Arik aus dem Wald von Kamar, auf dem Weg in das Land unserer Vorfahren. Ich muss den Fluss überqueren und finde keine Furt“, antwortete ich.
„Wenn du einen Segen auf mich legst, helfe ich dir hinüber“, bot der Salm an.
„Ich habe noch nie einen Segen gesprochen“, gab ich zu, „so kann ich dir nicht sagen, ob er dich schützen wird.“
„Hast du einen Segen empfangen?“, fragte der Fisch.
„Ja, ich empfing die Segen meines Vaters und meiner Mutter.“
„Dann kannst du ihn weitergeben, an mich und tausendfach“, erklärte der Salm.
Ich dachte nach. Wenn die Nachkommen in mehr als tausendfacher Zahl das Land unserer Vorfahren erreichten, würde mein Segen nicht ausreichen, sie zu schützen. Andererseits: Wenn ich dem Salm nicht half, würde ich das Land nicht erreichen, um den Segen zu spenden. Ich sagte zu.
„Mein Segen schütze dich vor allen Gefahren, vor den Jägern des Wassers und der Luft, vor Riesen und Trockenzeit. Mögen deine Reisen ihr Ziel erreichen und Nahrung dich stärken solange du sie begehrst“, sprach ich.
Auf Geheiß des Salms hielt ich mich an seiner Rückenflosse fest und wir erreichten sicher das andere Ufer.
„Hier beginnt das Land der List. Sei auf der Hut! Die Wesen hier jagen mit Fallen, gerätst du in eine, bist du verloren“, warnte mich mein neuer Freund. „Wenn der Boden unter deinen Füßen nachgibt, wenn das laubbedeckte Netz dich in die Höhe reißt, weißt du um dein Schicksal. An den Wurzeln der Eichen sind Klappen verborgen, die die Eingänge verschließen, kaum dass einer deiner Art dort sein Nachtlager gefunden hat. Traue niemandem und hüte dich vor Verlockungen, jedes Wort hier ist Lüge und reißt dich ins Verderben.“
Ich dankte dem Salm für das sichere Geleit und seine Mahnung. Ich befand mich auf fremder Erde. Vorsichtig setzte ich meinen Weg fort.
Gefangen!
Mein Stock leistete mir gute Dienste. Mit ihm tastete ich den Weg vor mir ab und scherte das Laub zur Seite um zu sehen, ob eine Falle darunter verborgen war. Des Nachts mied ich die Wurzeln der Eichen und wählte Felsvorsprünge als Schlafstätte.
So war ich schon drei Tage lang durch das Land der List gereist, ohne dass mich Unbill überkam. Dann riss mich in der Nacht ein Schrei aus dem Schlaf. Es klang, als befände sich jemand in großer Gefahr, und so eilte ich dorthin, wo ich die Ursache vermutete. Hinter einem Baum versteckt sah ich zu, wie zwei Karak sich an einem Netz zu schaffen machten, aus dem ein zappelndes Etwas vergeblich zu entkommen suchte. Als sie es ausgewickelt und an einen Baum gebunden hatten, erkannte ich Blaer, einen meines Stammes.
Ich dachte nach. Im Kampf war ich den beiden Karak unterlegen. Um Blaer zu befreien, bedurfte es einer List, eines Handels vielleicht. Die Karak waren dafür bekannt, dass sie sich gerne im Rätselwettstreit maßen. So trat ich hinter dem Baum hervor und fragte: „Übergebt ihr mir den Gefangenen für ein Rätsel?“ Das war keine gute Idee, denn flugs hatten mich die Karak gepackt und nun gleichfalls an einen Stamm gebunden. Blaer schüttelte den Kopf über meine Dummheit.
Die Karak tuschelten. Dann kamen sie auf uns zu und sagten: „Wenn ihr ein Rätsel wisst, das nicht zu lösen ist, seid ihr frei.“
Ich dachte nach. Dann sagte ich zu einem von ihnen: „Ich stelle dir eine Frage, die Antwort ist ‚ja‘ oder ‚nein‘, doch du kannst sie nicht geben, während jeder außer dir es könnte.“
„Welche soll das sein?“ fragte er mich.
„Es ist diese: Wirst du diese Frage mit ‚nein‘ beantworten?“
Der Karak dachte einen Augenblick nach, dann wurde er wütend. Was auch immer er sagen würde, war falsch. Die Karnak schwiegen und gaben uns frei.
So gewann ich den ersten Gefährten auf meiner Reise und wir setzten den Weg gemeinsam fort.
enja
27. Feb 2012
Ein toller Anfang, voller Phantasie. Ich bin gespannt, was Arik auf seiner Reise noch so erlebt. Ich finde aber, dass du deinen Lesern mehr Zeit geben solltest Arik kennenzulernen und sich in seiner Welt zurechtzufinden. Deine Geschichte wirkt auf mich etwas hektisch und gedrungen. Öffne die Erzählung etwas und schaffe mehr Freiraum indem du Bilder und Gefühle genauer beschreibst.
Songline
27. Feb 2012
Danke für deine konstruktive Kritik. Ich bin immer im Zwiespalt, wie lang ein Text sein darf, der im Internet gelesen wird. Aber du hast recht, ich könnte mehr Freiraum schaffen.