Die zwei Kerzen
Das Licht in der Höhle
Im Reich des Zauberers gab es eine Höhle, in der seit Urbeginn der Zeit ein Licht brannte. Niemand hatte es je entdeckt, bis eines Tages ein Unwetter aufzog und ein paar Schafe in der Höhle Zuflucht suchten. Das Mädchen, das sie hütete, war erstaunt, hatte es doch erwartet, der Dunkelheit ausgeliefert zu sein. Die Schafe drängten sich unter der schmalen Nische zusammen, aus der das Licht kam, und das Mädchen setzte sich zu ihnen. So harrten sie einige Stunden aus, bis der Sturm sich gelegt hatte.
„Es dämmert bereits“, sprach das Mädchen zu den Schafen. „Wir sollten das Licht mitnehmen, damit wir in der Dunkelheit den Weg nach Hause finden. Wir können es ja morgen wieder zurückbringen.“
Das Mädchen rollte einen Stein herbei und stellte sich darauf, um in die Nische greifen zu können. Sie ertastete zwei hintereinander stehende Kerzen und nahm sie heraus. „Oh!“, entfuhr es ihr. Denn kaum hielt sie die Kerzen in beiden Händen, brannten sie nicht mehr. Schnell stellte sie sie zurück und sofort leuchteten sie wieder auf. „Seltsam“, dachte das Mädchen, „ob die Kerzen nur in der Nische brennen? Dann werden wir hier übernachten müssen.“ Sie probierte es weiter. Wann immer sie die Kerzen herausnahm, erloschen sie, stellte sie sie zurück, entzündeten sich die Flammen.
Plötzlich hörte sie hinter sich eine Stimme:
„Zwei einzelne Kerzen siehst du nicht,
nur einander im Schatten sind sie Licht.“
Erschrocken fuhr das Mädchen herum. Am Fels gegenüber hing eine Fledermaus. Das Mädchen fürchtete sich ein wenig, trat aber dann doch an sie heran. „Hast Du zu mir gesprochen?“, fragte sie leise.
„Ja“, antwortete die Fledermaus, „wenn du das Licht mitnehmen möchtest, bedenke, dass die Kerzen einander im Schatten stehen müssen, so dass man meint, es sei nur eine, wenn man vor ihnen steht.“
Das Mädchen runzelte die Stirn: „Aber warum kann denn nicht jede für sich allein auch brennen? Dann würde ich eine hier lassen und nur die andere mitnehmen.“
„Weil ein Zauber auf ihnen liegt, der erst gebrochen werden kann, wenn jemand die zwei in einem Licht erkennt“, antwortete die Fledermaus.
Das Mädchen wunderte sich, aber sie probierte es aus. Sobald sie beide Kerzen hintereinander in ihren Händen hielt, leuchteten sie ihr den Weg. Das Mädchen bedankte sich bei der Fledermaus, versprach, das Licht bald zurückzubringen, und machte sich auf den Heimweg.
Der Zauber
Vom Licht der beiden Kerzen geleitet, kam das Mädchen wohlbehalten zuhause an. Sie versorgte die Schafe, aß ein wenig und ging dann in ihr Zimmer. Dort stellte sie die Kerzen auf den Schemel, setzte sich davor und probierte die Wirkung des Zaubers.
„Zwei einzelne Kerzen siehst du nicht,
nur einander im Schatten sind sie Licht“,
hatte die Fledermaus gesagt. Und genau so war es. Standen die Kerzen hintereinander, flammten sie auf. Sobald das Mädchen eine von beiden ein wenig verschob, so dass die hintere hervor lugte, erloschen die Flammen. Egal, welche der Kerzen vorne war.
„Warum darf man nicht beide Flammen gleichzeitig sehen?“, fragte sie sich, „Sie könnten an zwei Stellen Licht sein, wenn man es dürfte.“ So sehr auch dieser Gedanke in ihrem Kopf kreiste, sie fand keine Lösung und so schlief sie irgendwann unruhig ein.
Noch vor dem Morgengrauen wachte sie auf. Ihre Frage beschäftigte sie noch immer. Außerdem wollte sie heute die Kerzen zurückbringen. Das Mädchen holte die Schafe und erreichte die Höhle, noch bevor die Sonne im Zenit stand.
Die Fledermaus erwartete sie bereits. „Schön, dass du kommst“, sagte sie, „es verirrt sich sonst niemand hierher.“
„Guten Morgen“, antwortete das Mädchen. „Bitte sage mir: Warum kann ich nicht die beiden Kerzen unabhängig voneinander brennen sehen, ich weiß doch, dass sich hinter der ersten eine zweite verbirgt.“
„Weil du sie zusammen ertastet hast. Du wusstest von Beginn an, dass es zwei sind. Und ich verriet dir den Zauber. Höre zu, er geht noch weiter:
„Zwei einzelne Kerzen siehst du nicht,
nur einander im Schatten sind sie Licht“,
doch wisse, dass der Zauber bricht,
wenn zwei dir strahlen aus deiner Sicht.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte das Mädchen.
„Es bedeutet, dass man sich nicht von dem Schein des Lichtes blenden lassen darf, sondern jede Kerze für sich erkennen muss, wenn sie vorne steht.“
„Aber wie soll denn jemand das erkennen, wenn hier kaum jemand hinkommt und niemand die Kerzen umtauscht?“ Die Stimme des Mädchens klang traurig.
„Ich tausche die Kerzen vor jeder Morgendämmerung“, antwortete die Fledermaus. Käme jemand mehrere Tage hintereinander hierher, könnte er den Unterschied bemerken. Wenn er Augen hat, zu sehen.“
„Seit wann liegt der Zauber schon auf den Kerzen?“
„Seit der Zeit des schwarzen Magiers.“
„Aber die ist tausend Jahre her!“, entsetzte sich das Mädchen.
„Tausend und mehr“, antwortete die Fledermaus.
Betrübt machte sich das Mädchen auf den Heimweg. Sie würde so gern dafür sorgen, dass jede Kerze auch für sich allein brennen könnte. Aber wie sollte sie jemanden dazu bewegen, tagelang in der Höhle zu bleiben? Und wer würde sich nicht vom Schein des Lichts blenden lassen? Wieder war es ein Gedankenkreisel, der sie unruhig schlafen ließ.
Siri
„Und wenn ich nun Siri mitnehme?“ Das Mädchen war sich nicht sicher. Siri war ihre jüngere Schwester und eigentlich noch zu klein, um Schafe zu hüten. Der Weg zur Höhle war für sie zu weit. Vater würde es gewiss nicht erlauben und selbst wenn er es täte, würde Mutter sich zu sehr sorgen. Das Mädchen verwarf die Idee. Doch schon am nächsten Tag kam ihr ein Zufall zu Hilfe.
„Deine Mutter und ich müssen in die Stadt. Du weißt, der Weg ist weit. Wir bleiben über Nacht fort und kehren morgen Abend zurück. Bleibe mit den Schafen bei der Hütte und kümmere dich um Siri“, sagte der Vater beim Frühstück.
„Ja, Vater.“ Das Mädchen verbarg seine heimliche Freude. Kaum waren die Eltern aus dem Haus, packte sie ein Bündel mit Brot und Obst und band es sich auf den Rücken. Sie nahm ein weiteres Tuch mit, in dem sie Siri tragen konnte, und machte sich mit ihr auf den Weg. Für Siri war es ein großes Abenteuer. Sie durfte noch nie mit den Schafen gehen und indem sie mal dem einen, mal dem anderen folgte und jedes dabei ausgiebig streichelte, merkte sie gar nicht, wie weit sie gingen. Lange vor der Abenddämmerung erreichten sie die Höhle.
Das Mädchen führte Siri hinein und zeigte ihr das Licht. „Schau, wie schön es ist“, sagte sie. Siri war zu klein, um die Kerzen zu sehen, aber sie setzte sich hin und betrachtete fasziniert das Spiel der Flammen an der Nischenwand. Bald wurde es draußen dunkel und die beiden Kinder fielen in einen tiefen Schlaf.
Als das Mädchen erwachte, sah sie Siri vor der Nische sitzen. Sie hatte den Kopf schräg gelegt, wie sie es immer tat, wenn sie in ihre eigene Welt versunken schien.
„Psssst“, hörte das Mädchen die Fledermaus flüstern und ging zu ihr.
„Sie hat es erkannt!“, lächelte die Fledermaus.
„Woher weißt du das?“
„Ich sah es an ihrem Stirnrunzeln. Sie wunderte sich. Und sie wiegt sich heute anders als gestern.“
„Sollen wir sie fragen?“
„Nein. Wenn der Zauber gebrochen ist, kann jede von Euch eine Kerze nehmen und sie wird auf ewiglich Licht spenden, euch und euren Kindern und Kindeskindern, bis ans Ende der Zeit.“
„Sollen wir es versuchen?“
„Ja.“
Das Mädchen trat vorsichtig an die Nische, stellte sich auf den Stein, den sie vor ein paar Tagen dorthin gerollt hatte, nahm die erste Kerze heraus und gab sie Siri. Freudig lächelnd hielt diese ihr Geschenk in der Hand und ihre Augen folgten dem Flackern des Feuers. Das Mädchen ertastete die zweite Kerze und nahm sie an sich. Auch sie brannte noch.
„Komm, Siri, wir gehen heim“, munterte das Mädchen die Kleine auf. Siri trug ihre Kerze voller Stolz nach Hause. Das Mädchen fuhr fast zärtlich an ihrer entlang.
„Zwei einzelne Kerzen brannten nicht,
nur einander im Schatten waren sie Licht,
doch der Zauber brach unter Siris Sicht,
nun bist du frei und nicht in der Pflicht.“
Als sie die Hütte erreichten, sah das Mädchen, dass die Fledermaus unter dem Dach Quartier bezogen hatte. „Gegen eine wird der Vater wohl nichts haben“, hoffte sie. „Erzähle ihm, ich bringe Glück!“, rief die Fledermaus ihr zu, als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte. Das Mädchen nickte lächelnd.
Dann ging sie ins Haus, versorgte Siri und stellte eine der Kerzen auf den Tisch und die andere ins Fenster. Als die Eltern heimkamen, erzählte sie ihnen von der Höhle und dem Zauber und der Fledermaus. Die Eltern hielten die Geschichte für eine nächtliche Träumerei und das war gut, denn sonst hätten sie vielleicht geschimpft. So aber lächelten sie nachsichtig.
Manches Licht blendet und manche Geschichte. Du kannst nie wissen, was stimmt. Aber diese Geschichte ist so wahr, wie ich sie erzähle.
Mumpitz
25. Jun 2012
Die Geschichte ist sehr geheimnisvoll, mit einer Weisheit, wie sie in Märchen oder Fabeln typisch ist. Mir fält nur die Interpretation schwer.
Songline
25. Jun 2012
Die Geschichte lässt mehrere Interpretationen zu. Zunächst geht es darum, sich nicht vom Anschein blenden zu lassen. Dann darum, dass sich hinter einem Ereignis oder einer Person oder einer Sache noch ein zweites verbergen kann, was man auf den ersten Blick nicht sieht, was aber dennoch ein eigenes Leuchten hat, wenn man es erst einmal entdeckt hat.
Und es geht um die Unbefangenheit eines Kindes, das noch Augen hat, zu sehen.