Das Geheimnis des Flusses
Vorwort
Einst floss ein Fluss, so rein und klar,
durch das Tal der Berge von Sur.
Als dieser Fluss gespalten war,
verlor sich des Glückes Spur.
Sein schwarzer Strom brachte Not und Leid,
doch nicht bis zum Ende der Ewigkeit,
der Wächter sprach: „Einmal nur!“
Die schwarze Flut
Galahad hörte seine Mutter schreien und spürte, wie sie ihn packte und mit sich zog. Eben noch hatten sie Korn geschnitten. Die Ähren waren gut in diesem Sommer, kein Tierfraß, keine Krankheit hatte ihnen schaden können. „Dieses Jahr wird es bis über den Winter reichen“, hörte er seine Mutter noch sagen, während sie nun neben ihm den Hügel hinauf hastete. Um sie herum rannten die Menschen um ihr Leben. Das drohende Grollen des schwarzen Flusses hatte sie bald eingeholt und übertönte die Rufe derer, die mit letzter Kraft zur Eile mahnten.
Noch dreihundert Meter. Galahad erkannte schon Fingals Höhle, dort würden sie sicher sein. Die Schritte seiner Mutter wurden kürzer, ihr Atem beschwerlich. Längst war er es, der voranschritt und ihr mit fester Hand den Weg wies. „Komm, gleich sind wir da.“ Galahad spürte, wie sich der Fluss in der Enge des Tales aufbäumte. „Dreh dich nicht um“, dachte er, „dreh dich nicht um.“ Das Beben unter seinen Füßen wurde heftiger, das Grollen unerträglich. Plötzlich entwand sich seine Mutter dem Griff seiner Hand. „Lauf!“, schrien ihre Augen und Galahad gehorchte, wie sie es ihm immer wieder befohlen hatte für den Tag, an dem der entfesselte Teufel aus den Bergen kommen würde.
Als es vorbei war, fehlten sieben. Die Lebenden blickten von der Höhle auf den Schlamm hinunter, der ihre Felder begraben hatte. Astwerk ragte daraus hervor, ganze Stämme gar, und totes Vieh mit seltsam verrenkten Gliedern. Über dem Tal, in dem sonst ein klarer Fluss friedlich seine Bahn zog, lag eine beunruhigende Stille. Niemand regte sich, bis Weylyn zum Aufbruch mahnte. Er führte die Gruppe ins Dorf zurück, das jenseits des Hügels lag, sicher vor den Fluten des schwarzen Wassers. Schon von weitem sah Galahad seinen Vater vor der Hütte stehen. Was sollte er ihm nur sagen? Wie sollte er erklären, dass er nicht stark genug gewesen war, seine Mutter in Sicherheit zu bringen? Doch Bradach machte ihm keine Vorwürfe. Er legte ihm ruhig die Hand auf die Schulter und sprach: „So erfüllt sich die Prophezeiung. Morgen wirst du im Kreis der Alten stehen.“ Dann führte er ihn in die Hütte. Galahad fiel in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder spürte er das Beben, hörte das Grollen und sah den Blick seiner Mutter, mit dem sie ihn verabschiedet hatte.
Fluch und Auftrag
Am nächsten Abend versammelten sich die Ältesten des Dorfes um das Feuer. Bradach führte seinen Sohn in den Kreis, setzte sich mit ihm zu den anderen und lauschte den Worten Ketachs, der die Geschichte des Flusses erzählte:
Um die Macht rangen Geldor und Doraban,
in der Höhle des Berges von Sur.
Ihre Krieger zündeten Feuer an
bald darauf begann die Tortur.
„Auf Leben und Tod! Bis der letzte Saft
aus dem Körper des einen entwichen!“
So schrien sie mit aller Kraft,
noch ruhten die Schwerter dazwischen.
Der Fluss des Berges war ihr Begehr,
dessen Nass in der Höhle entsprang.
Das Wasser reichte die Krone her,
gab Macht oder Untergang.
„Wer die Quelle besitzt, ist König im Reich,
kann das Schicksal des Landes bestimmen.“
So sprach der Wächter und die Worte sogleich
ließen die Kämpfer ergrimmen.
Das Wasser der Quelle war rein und klar,
gab dem Land seinen Reichtum und Leben.
Sobald der Born verunreinigt war,
würde Unheil am Wasserlauf kleben.
„Wenn ihr kämpft, gebet acht, dass kein Tropfen von Blut
und kein Schweiß diesen Wasserlauf scheidet.“
So mahnte der Wächter, doch ein Krieger in Wut
achtet dies nicht, wenn er leidet.
Um die Macht rangen Geldor und Doraban
viele Stunden auf Leben und Tod.
Ihr Blut und ihr Schweiß von den Körpern rann,
dann lag Geldor am Boden in Not.
„Der Born soll dein Sieg und dein Unheil sein!“,
hörten die Krieger sein Zischen.
Dann tauchte Geldor sein Schwert hinein
und bald darauf ist er verblichen.
Der Blick voll Entsetzen, die Schreie verstummt,
Geldors Fluch und das Blut in der Quelle.
Der Sieger Verlierer, die Krieger vermummt,
der Wächter sucht Rat auf die Schnelle:
„Nur ein einziges Mal darf des Schändlichen Bann
seine grausame Wirkung entfalten.
Danach soll ein Junge, er sei noch kein Mann,
die Quelle in Sicherheit halten.“
In diesem Moment richteten sich die Augen der Ältesten auf Galahad, der Ketachs Vortrag gespannt gelauscht hatte. Als er es bemerkte, blickte er unsicher auf seinen Vater. „Geldors Schwert spaltete von dem reinen Wasser einen schwarzen Strom ab, der sich im Berg Sur sammelte. Es hieß, er würde sich Bahn brechen, wenn der Berg die Kraft des Flusses nicht mehr halten könne. So ist es geschehen. Solange das Schwert in der Quelle steckt, wird weiterhin schwarzes Wasser fließen. Du aber kannst das Reich retten, indem du das Schwert dem Feuer von Sur opferst.“ Bradach sah seinen Sohn ruhig an.
„Welches Feuer meinst du, Vater?“, fragte Galahad nach.
„Der Berg Sur birgt Feuer und Wasser, die Quellhöhle an seiner Flanke, das Feuer tief in seinem Inneren verborgen. Wenn du das Schwert hast, trage es einmal vor die Höhle und zeige es den Göttern. Dann bringe es in den Schlund des Berges und opfere es, auf dass es nie wieder eines Menschen Schaden sei.“
„Solange die Quelle den König kürt, kann sie immer wieder in zwei Wasser gespalten werden“, sagte Galahad leise. Die Ältesten nickten.
In diesem Moment war Hufgetrappel zu hören und bald darauf erschien Doraban mit einem Dutzend seiner Krieger. Die Männer im Kreis sprangen auf und verneigten sich vor ihrem König.
„Geldors Fluch hat die Ernte zerstört und den Tod über mein Tal gebracht. Sagt, habt ihr den Jungen gefunden, den der Wächter zum Retter bestimmte?“
„Mein Sohn wird es sein.“ Bradach gab Galahad ein Zeichen, dass er vortreten solle.
„Wie heißt du, Junge?“
„Galahad.“
„Wie alt bist du?“
„Zwölf.“
„Was führt dich an die Quelle?“
„Der Blick meiner Mutter, bevor der schwarze Strom sie mir entriss.“
Doraban nickte. „So soll es sein.“
„Herr, solange die Quelle den König kürt, kann sie immer wieder in zwei Wasser gespalten werden“, wiederholte Galahad seine Bedenken.
„Du wirst der neue Wächter des Wassers sein. Bestimme, was immer du für richtig hältst, es zu schützen.“ Mit diesen Worten wendete Doraban sein Pferd und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Der Wächter
Am nächsten Morgen brach Galahad auf. Er ging hinunter ins Tal und folgte dort der Spur des Todes. Manchmal glaubte er, unter dem schwarzen Schlamm das Plätschern des klaren Flusses zu hören, dann wieder schalt er sich selbst, dass er sich irren müsse. Gegen Mittag erreichte er den Berg Sur, erklomm seine Flanke und gelangte in die Höhle der Quelle. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Plötzlich hörte er ein Geräusch neben sich und bald darauf flammte eine Fackel auf.
„Um die Macht rangen Geldor und Doraban,
in der Höhle des Berges von Sur.
Ihre Krieger zündeten Feuer an
bald darauf begann die Tortur.
Des Verlierers Verrat brachte Unheil und Not,
nur ein Junge wird Herr über Bannspruch und Tod.“
So sprach der Wächter und sah Galahad an.
„Ich bin der Junge, nicht mehr Kind, noch nicht Mann.“
„Wie heißt du, Junge?“ fragte der Wächter.
„Galahad.“
„Wie alt bist du?“
„Zwölf.“
„Was führt dich an die Quelle?“
„Der Blick meiner Mutter, bevor der schwarze Strom sie mir entriss.“
Der Wächter schwieg eine Weile und nickte dann. „Komm“, sagte er und führte Galahad zu der Stelle, wo der Fluss entsprang. Galahad sah, wie das Schwert die Quelle in zwei Wasser schied, das eine hell und klar, das andere schwarz von Blut und Verrat. Das klare floss aus der Höhle hinaus ins Tal, das schwarze verschwand nach ein paar Metern in einem Felsspalt. Schon wollte Galahad an die Quelle herantreten und das Schwert herausziehen, doch der Wächter hielt ihn zurück.
„Hat man dir gesagt, was zu tun ist?“, fragte er.
„Ich soll das Schwert den Göttern zeigen und dann dem Feuer von Sur opfern.
Ich soll die Quelle schützen und der neue Wächter sein.“
Wieder schwieg der Wächter eine Weile und nickte dann:
„Gib Acht, du musst das schwarze Wasser besänftigen, bevor du das Schwert ziehen kannst.
Deine Hand wird den Quell einen. Du solltest sicher sein, dass das geeinte Wasser das klare ist, bevor du es tust.“
„Herr, niemand sagte mir, wie ich das schwarze Wasser zur Ruhe bringe.“
„Es ist deine Aufgabe, Junge, es herauszufinden.“
Mit diesen Worten übergab der Wächter die Fackel an Galahad und ließ ihn allein an der Quelle zurück.
Die zwei Wasser
Galahad setzte sich und folgte mit den Blicken dem Lauf der zwei Wasser. Das klare floss so munter dahin, leicht, als ob es wusste, wie viel Wohl und Leben es für das Tal bedeutete, in dem es seine Richtung fand.
Das dunkle brodelte zäh. Sedimentbeladen bahnte es sich seinen kurzen Weg zu dem Felsspalt.
Galahad wollte das Schwert verfluchen, das so viel Unglück über die Quelle gebracht hatte. Aber was hätte es genutzt? „Du musst das schwarze Wasser besänftigen“, erinnerte er sich an die Worte des Wächters. Doch wie sollte er etwas besänftigen, das vom Dunkel als Dunkles bestimmt war? Die Frage ließ ihn in einen unruhigen Schlaf fallen.
Drei Tage und Nächte wachte Galahad an der Quelle. Er aß nicht, trank nur ab und zu von dem reinen Wasser. Am vierten Tag hatte er eine Idee. Er zog sein Hemd aus und hielt es in das schwarze Wasser, gerade dort, wo das Schwert die Quelle geschieden hatte. Das Leinen hielt das Sediment zurück und dahinter war das Wasser fast klar. In diesem Moment erkannte Galahad, dass er das Schwert reinigen musste, bevor er es ziehen konnte. Dorabans Schweiß und Blut klebten daran, geboren aus einem tödlichen Kampf um die Macht, mit der Quelle als Preis, die doch nicht Werkzeug, sondern frei sein sollte.
„Du wirst der neue Wächter des Wassers sein. Bestimme, was immer du für richtig hältst, es zu schützen“, hatte sein König ihm aufgetragen.
Galahad hielt die Fackel über die Quelle und wählte seine Worte:
„Um die Macht rangen Geldor und Doraban,
in der Höhle des Berges von Sur.
Die Legende trieb beide zum Todschlag an,
und ihr Blut zog die schändliche Spur.
Der Fluch sei gebannt und das Schwert sei nun rein,
die zwei Wasser sollen bald eines sein.“
So sprach der Junge, nicht mehr Kind, noch nicht Mann,
und das Schwert wurde rein, gelöst war der Bann.
Galahad trat an die Quelle, deren klares Wasser nun in beide Ströme floss. Er zog das Schwert und im selben Augenblick versiegte der Strom in den Felsspalt und das geeinte Wasser nahm seinen Weg in das Tal. Daraufhin sprach er den Schutz aus:
„Das Wasser der Quelle ist rein und klar,
gibt dem Land seinen Reichtum und Leben.
Was ehemals seine Aufgabe war,
sei den Menschen zurückgegeben.
Die Quelle sei frei, nicht mehr Spielball der Macht,
dafür stehe ich hier und halte die Wacht.
Von nun an sei der nur zum König gewählt,
der durch Weisheit besticht und der niemanden quält.“
Die dritte Aufgabe
Galahad verharrte noch an der Quelle, als der Wächter zu ihm trat. „Du hast die Wasser geeint und die Quelle geschützt. Die dritte Aufgabe steht dir noch bevor.“
„Ich weiß, ich muss noch das Schwert opfern.“
„Trete vor die Höhle und präsentiere es den Göttern. Dann nehme den Weg bis zum Gipfel. Du wirst einen Schlund entdecken. Steige in diesen hinab. Dort ist ein Zugang in das Innere des Berges. Folge dem Pfad, bis du das rote Feuer siehst. Es wird das Schwert aufnehmen, auf dass es nie wieder spalte, nicht Mensch, noch Tier, nicht Wasser, noch Reich.“
Galahad machte sich auf den Weg und tat alles so, wie der Wächter es ihm gesagt hatte. Nach drei Tagen kehrte er in die Höhle zurück.
Der Wächter verbeugte sich. „Ich verabschiede mich nun und weiß die Quelle in guten Händen. Du hast dich als kluger Wächter erwiesen. Wenn die Zeit es will, wird ein neuer Wächter kommen, nicht um einen Fluch zu lösen, sondern damit du heimkehren kannst für eine größere Aufgabe. Die Menschen im Tal sehen den vollen Strom des Flusses und wissen, dass du vollbracht hast, wofür du herkamst. Sie tragen deinen Ruhm über die Hügel in die Nachbarprovinzen und von dort breitet er sich aus, weiter und weiter, bis ans Ende der Zeit.“
Galahad dankte dem Wächter und verabschiedete sich von ihm. „Deine Weisheit hat meine ermöglicht, dein früher Bann mir den Weg bereitet. So gehe mit dem Fluss, der dir seine Freiheit verdankt.“ Vom Eingang der Höhle aus blickte Galahad dem Wächter nach, wie er den Berg hinabstieg und seinen Weg entlang des Flusses nahm. Das geeinte Wasser hatte die schwarze Spur mit sich getragen, weit fort in den Ozean, auf dessen Grund sie niemand mehr fand.
Nachwort
Einst floss ein Fluss, so rein und klar,
durch das Tal der Berge von Sur.
Als dieser Fluss gespalten war,
verlor sich des Glückes Spur.
Doch ein junger Held nahm dem Strom seine Macht,
brachte den Tag zurück nach der Nacht,
für immer und nicht „einmal nur“.
Mumpitz
9. Okt 2012
Mensch Song, was so in deinem Kopf herumgeistert! Eine wunderschöne, weiche Fantasy-Sage, mit viel Weisheit und Gleichnischarakter. Das Schwertopfer hättest du allerdings etwas spannender ausschmücken können, das geht sehr flott, obwohl man zu Beginn als Leser darauf hingelenkt wird, dass es der Höhepunkt der Geschichte wird.
Sehr gern gelesen!
Maultrommler
9. Okt 2012
Lyrik und Prosa verwoben wie in uralten Sagen.Gefällt mir von denen, die ich bisher von Dir kenne, am Besten.Applaus.Aber ein bisschen mäkeln sollte sein:Ende der Ewigkeit? Das ist nicht Dein Ernst, dass die ein Ende hat.Vermutlich hast Du gemeint: nicht bis alle Ewigkeit.
Und: ….“einmal nur“ würde ich umformulieren.Und statt: nehme, die neuere Form:nimm.Andi stimme ich zu, das Wichtigste, den Höhepunkt, die Schwertopferung wird stiefmütterlich behandelt. Schade.Sonst gut eingefühlt in Deine Idee.Und die Idee ist schön.
Songline
9. Okt 2012
Lieben Dank ihr beiden. Als ich meiner Großen von der Geschichte erzählte und dass das Schwert in der Lava geopfert werden sollte, sagte sie: Das gab’s doch in „Herr der Ringe“ schon mal. Ich nickte und dachte, ich lass mal dem Herrn Tolkien seine Idee und halte mich diesbezüglich kurz 😉
Maultrommler
10. Okt 2012
Das ist mir entgangen. Aber Du könntest vielleicht den Helden das Schwert mit dem Feuer des Vulkans umschmieden lassen, nicht in einen Pflug, das kennen wir schon, aber vielleicht in einen großen Schlüssel. Wozu der nicht alles passen könnte…und die Geschichte wäre noch nicht zu Ende… oder in was ganz Anderes – ich bin sicher, Dir fällt noch ne Menge ein…
Gruß,
Uwe.