Tag für Tag – 16.03.213
Sorgen
Solange ich mich sorge, fühle ich noch, reiße die Mauer ein, hinter der mich zu verstecken es einfacher machen würde. Aber wo sähe ich dann noch – mich?
Sorgen
Solange ich mich sorge, fühle ich noch, reiße die Mauer ein, hinter der mich zu verstecken es einfacher machen würde. Aber wo sähe ich dann noch – mich?
„Ich sagte dir, dass das passieren würde.“
Clare nickte. „Ja, du sagtest es vor langer Zeit. Und auch, dass da einer hinter zweien sei. Du behieltest dreifach Recht.“
„Erklärst du es mir?“
„Nein.“
„Was hast du nun vor?“
„Ich möchte schreiben und nicht länger Geschriebene sein.“
„Und dann?“
„Dann bin ich daheim.“
Clare nahm das grüne Buch aus dem Schrank, hüllte sich in ihre Decke und begann zu lesen. Sie kannte Wort für Wort, doch die Erzählungen ihres Vaters trugen sie immer wieder neu in sein Leben. Sie sah die sanften Hügel, die Wälder und Felder rund um das Dorf, in dem er aufgewachsen war, sah die Vorfahren im Hof stehen, ihren Vater als Kind mit der vom Onkel gebauten Schubkarre, seine Mutter beim Brot backen. Die Familie ernährte sich nach Möglichkeit vom dem, was der Hof hergab, doch ab und an mussten sie vier Kilometer ins Tal gehen und in der nächsten Stadt einkaufen. Der Rückweg mit den vollen Taschen war beschwerlich und so blieben die Lakritzstangen, die es als Belohnung gab, in guter Erinnerung.
Clares las über die Kindheit ihres Vaters im Krieg, seine Eindrücke von Soldaten, Kriegsgefangenen und Städtern, die hungernd die letzten Kartoffeln aus den Äckern gruben. „Wir mussten nicht fliehen, wir litten keinen Hunger und niemand aus unserer Familie ist gefallen“, beschrieb er diese Zeit in Dankbarkeit dafür, glimpflich davongekommen zu sein.
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Flüstergruß
Wo du fehlst, ist nicht nichts, sondern das Denken an dich.
„Wenn man einem Menschen seine Träume nimmt, was hat er dann noch?“
„Die Geschichten.“
„Geschichten, Sina“, widersprach Clare, „schreiben sich mit ihrem Ende in die Vergangenheit. Träume schauen nach vorn. Und wäre dort nichts mehr, welchen Sinn hätte dann das Sein?“
„Den, weitere Geschichten anzusammeln.“
„Richtig, Sina, aber ohne Träume kannst du sie nicht schreiben, sondern würdest Geschriebene sein.“
Clare schwieg und wiegte sich in sich selbst. In Gedanken spazierte sie einen Strand entlang, sammelte ein paar Muscheln und kehrte dann in ihr Haus zurück, von dem aus sie das Meer sehen konnte.
„Träumst du wieder?“, fragte Sina. Clare nickte. Dann stand sie auf und holte einige sorgsam beschriftete Dosen aus dem Schrank, in denen einst Bonbons waren und die nun ihre Schätze hüteten. Muscheln befanden sich darin, Schnecken, meergeschliffenes Glas, hier die Schere eines Krebses, dort die Knochen eines Tintenfischs. Strandgut aller Meere. Sina betrachtete die Sammlung mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis.
Clare legte die schönste ihrer Schnecken in Sinas Hand:
„Ich fand meine Wege, weil ich sie träumte und mich nicht schreiben ließ.“
„Meine träumte ich nie.“
„Dann behalte sie.“
Irgendwann kamen sie in unser Dorf und haben mich mitgenommen. Kämpfen solle ich, haben sie gesagt. Oder sterben.
Ich wollte doch nur lernen, lernen für ein besseres Leben. „Bildung ist der Schlüssel zu allem“, hat mein Vater immer gesagt, und „Dir soll es einmal besser gehen als mir.“ Ich lernte gern, war froh, auf die Schule gehen zu dürfen, auch an diesem Tag. Doch an diesem Tag kam ich dort nicht an.
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Im Blick auf das,
was nicht ist,
sehe ich doch drum herum das Geschenk,
das du mir bist.
Und wieder wurde eine Nacht zum Tag, wie alle Nächte seines Schweigens. Gestern noch hatte Clare vom Mut der Schwester gezehrt, heute blieben nur noch Tränen.
„Clare, lass uns anfangen“, hörte sie Sina sagen.
„Womit?“
„Dich von ihm zu entfernen, wie er sich von dir entfernt.“
„Bitte nicht. Nicht um falscher Worte wegen.“
„Diese Worte sind stärker als alle Liebe.“
„So sind sie ihr Feind.“
„Soll ich dir ein paar Tage Bedenkzeit geben?“ Sina klag ernsthaft besorgt.
„Lass mich die Zeit abwarten, die er für sein Kommen ankündigte.“
„Clare!, es geht jetzt um dich.“
„Wenn ich die Zuversicht verliere, verliere ich mich.“
Clare zog sich zurück. Ein altes Lied klang in ihr, das vom Ende des Leidens erzählte. „Ameno“, flüsterte sie, „wir haben die Wahrheit in unseren Herzen gesehen.“
Blutend am Boden, die Faust traf ins Gesicht,
in der Gasse nach Hause, den Schmerz vergisst du nicht,
seit dem Tag bist du nie wieder am Laternenpfahl vorbei,
an den sie dich banden, du wurdest nie mehr frei.
Der Kerl lebt längst woanders, dessen Höhnen du noch hörst,
doch du bewahrst den Schatten, mit dem du dich zerstörst,
lass ihn endlich los, dann fängt dein Leben an,
schau wie bunt das Leben ohne (schwarze) Schatten sein kann.
Und der Schatten deiner Angst
Trägt sich fort
Bis ans Ende seines Wegs,
lass ihn dort.
Lass ihn dort
zurück.
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„Wie geht es dir jetzt?“, fragte Sina.
„Besser. Ich lasse deine Worte schwingen“, antwortete Clare.
„Möchtest du allein sein?“
„Ja.“
Sina verließ die Wohnung. Eine Weile blieb Clare noch sitzen, dann nahm sie einen Block und einen Stift. Gedankenkreise zogen sich aufs Papier und fanden nicht Wort. Kleiner werdend bildeten sie einen Trichter, schließlich eine Linie, die auf dem Tisch endete.
‚Weißt du, dieses Blatt erzählt eine Geschichte, ob sie nun geschrieben steht oder nicht. Und nähme ich das Blatt und würde es verbrennen, so bliebe doch die Geschichte, weil ich um sie weiß.‘
Clare unterbrach ihre Gedanken und betrachtete die Zeichnung. Große Schwünge, die sich am Ende im Nichts verloren. Etwas später radierte sie den letzten Zentimeter auf dem Blatt und die Spur auf dem Tisch aus.
Als Sina am nächsten Tag das Bild fand, sah sie Clare fragend an.
„Eine Geschichte muss enden, bevor sich eine neue schreibt.“
„Wann endet deine?“
„Wenn jemand meine Angst vertreibt.“