Tag für Tag – 30.01.2013

Abschied

„Zum letzten Mal“, sagtest du. „Zum letzten Mal für längere Zeit“, ich. Du wusstest es besser. Abschied wie Anfang im falschen Gewand.
„Lass uns frohen Herzens auseinandergehen.“ Wenn da eines war, woher kamen dann meine Tränen?
Ich bin frohen Herzens über das Vorbei.

Fallenlassen

Die sechs Kinder standen im Kreis und hatten eines in die Mitte genommen. Erwartungsvoll sahen sie auf Clare. „Nehmt bitte eure Hände in Schulterhöhe und rückt ganz eng aneinander, da darf keine Lücke sein. Mike, bist du bereit?“ Der Junge nickte.
„Dann spann jetzt alle deine Muskeln an, schließ deine Augen und lass dich fallen. Achte darauf, dass deine Füße auf einer Stelle stehen bleiben. Es kann nichts passieren, wir werden dich abstützen und vorsichtig wieder in die Mitte schieben.“
„Darf ich es einmal mit offenen Augen?“
„Natürlich.“

Mike machte sich steif wie ein Streichholz und kippte nach vorn, wo er von zwei Händen abgestützt und zurückgeschoben wurde. Er lächelte.
„Wenn du dich traust, können wir dich durch den ganzen Kreis schwingen lassen.“ Clare sah ihn aufmunternd an und als Mike die Augen schloss und sich zurückfallen ließ, schaukelte er zwischen den Kindern hin und her.
Nach kaum einer Minute unterbrach Clare das Spiel. „Nicht zu lange, sonst wird ihm schwindelig.“
„Das war toll!“, rief Mike begeistert.

„Amy, möchtest du als nächste?“
Amy blieb stehen. „Fallenlassen geht nur, solange man nicht fallgelassen wurde“ flüsterte sie kaum hörbar.
Einen Moment war es still. Dann nahm Mike sie an der Hand, führte sie in die Mitte und sagte: „Schau: Fallenlassen können hängt davon ab, wer der Kreis ist.“

Das Schiff

Eine Kerze auf dem Tisch, zwei Gläser Wein.
Sinas Blick ruhte auf Clare, in der Hoffnung, dass sie erzählen würde. Interesse sprach aus ihren Augen, und Zeit.

Clare atmete durch. „Weißt du“, begann sie, „da ist dieses Frachtschiff, es ist ganz neu und auf seiner ersten Fahrt stromabwärts dem Meer zu. Es hört den Kapitän alte Seemannslieder singen, die von der Weite und Tiefe des Ozeans erzählen, und das weckt die Sehnsucht ihn ihm.
Als sie in den ersten Hafen kommen, wird das Schiff mit allerlei Fracht beladen, wie auch im nächsten und übernächsten. Manchmal passieren sie Schleusen und man hebt es ohne eigenes Zutun hinauf oder senkt es hinab. Manchmal laden sie in einem Hafen etwas aus, aber mit der Zeit wird die Last dennoch immer schwerer. All dies trägt das Schiff leicht, denn die Melodien des Flusses, des Motors und des Kapitäns bringen es immer näher an sein Ziel. Dann erreichen sie den letzten Binnenhafen vor dem Meer. Der Frachter wird fast vollständig entladen und freut sich schon auf die Weiterfahrt, bis er den Kapitän sagen hört, dass es nun flussaufwärts zurück geht. „Hey, was ist mit dem Meer“, schreit das Schiff, doch der Kapitän lädt unerfüllte Sehnsucht und wendet zur Heimfahrt.“

Sina strich Clare über den Arm: „Du kleidest deinen Schmerz in Poesie.“
„Du sagtest, dann trägt er sich leichter.“
„Trägst du mehr Sehnsucht, als du tragen kannst?“
„Wäre ich das Schiff, ich ginge unter.“
„Du solltest lernen, damit umzugehen.“
Clare schwieg und wünschte sich, der Kapitän zu sein.

Die Tür

„Schsch, Maus, alles gut, alles gut.“ Clare nahm ihre Kleine in die Arme und wiegte sie. „Ruhig, Maus, du weinst die Vergangenheit.“
„Weil sie ins Heute reicht.“

Clare schwieg. Damals war so lange her, ihr Leben minus vier Jahre. Ihre ersten Tränen, die nicht getrocknet wurden. Das erste Mal, dass man sie in ihrer Traurigkeit allein ließ. Ihr Vater hatte sie durch den Türspalt angesehen, mit tränenverklärten Augen, und war zu ihrer Mutter ins Nebenzimmer gegangen. Zwei Eltern in Trauer um ihr totes Kind. Und eine Schwester, die nicht wusste, was geschah.
„Ruhig, es ist gleich vorbei.“
„Es geschieht immer wieder neu.“

Kleine Kinder lernen schnell. Kleine Kinder lernen, allein klarzukommen, es mit sich selbst auszutragen. Ab und zu strecken sie nochmal die Hand aus, wenn sie jemanden im Türspalt stehen sehen, aber wenn auch diese nicht ergriffen wird …
„Ich mach zu, ja?“ Clare stand auf und schloss die Tür.
„Du zeigst wieder nicht, dass du weinst.“
„Ich kann niemanden mehr vorbeigehen sehen.“
„Clare …“
„Schsch, Maus, gleich sind wir frei.“

Gelbe Rosen und Gerbera

Sorgfältig band die Verkäuferin den Strauß. Sie begann mit drei Sonnenblumen in der Mitte und legte rundherum gelbe Rosen und Gerbera an. Zwischendurch und am Rand fügte sie Schnittgrün hinzu, umwickelte die Stiele schließlich mit Bast und vollendete ihr Werk mit einem Kragen aus Glanzpapier. Clare sah ihr gedankenversunken zu, bezahlte dann und machte sich auf den Weg nach Hause.

Sie hatte lange keine Blumen mehr geschenkt bekommen und wenn, dann waren es nicht diese. Seltsam, dass niemand fragte. Im Dienst gab es den bunten Standardstrauß und Männer schenkten rote Rosen. Auch Standard. Clare schüttelte den Kopf. Sie ging ein Stück am Fluss entlang und passierte dann im Park die alte Eiche. „Hey“, sagte sie und strich wie immer mit der Hand an der Rinde entlang. Ein leichter Windhauch ließ die Blätter Antwort flüstern.
„Er hat auch nie gefragt“, vertraute Clare dem Baum an und ihr war, als hörte sie sein „Ich weiß.“

Vor der Brücke hob sie einen kleinen Ast auf und gab ihn dem Fluss mit. Sie sah ihm nach und ließ ihn weiterschwimmen, durch die Wehre, bis in den Strom, der ihn ins Meer trug. „Eines Tages“, dachte Clare, „lebe ich dort, wo du strandest.“

Ein paar Minuten später betrat sie ihre Wohnung und richtete die Blumen in der einzigen Vase, die sie besaß. „Gelbe Rosen und Gerbera“, flüsterte sie, „und Sonnenblumen. Falls jemand fragt.“

Tag für Tag – 22.01.2013

Die richtigen Dinge

Wir reden und lachen über die richtigen Dinge. Mit Respekt, Tiefgang, Ausgelassenheit. „Interesse“, würdest du ergänzen und ich sage: „ja“. Wie du mich so ohne Vorbehalt annimmst, wie ich bin, und ich dich, wie du bist.
Wir haben den Cut nicht gezogen, weil du wusstest, wir würden immer wieder an den Rand zurückkehren. Und wann immer wir dort stehen, spüre ich, wie anders es ist, wie anders du bist.

Erzählt ist nicht erlebt, und das ist gut. Uns ginge das Geschenk des Kennenlernens verloren, wäre da kein Geheimnis mehr, nichts Neues, kein „Anders, als sie sagten“. Ich sehe dich jetzt, durch meinen Blick, nicht durch ihr Wort und seins. Und so wird es wieder sein.

Tag für Tag – 21.01.2013

Mehr

Wie dieses Menschsein in dir schwingt. Jedes Freuen ist mehr, jedes Träumen, jedes Planen und in die Zukunft schauen, jedes Wohlfühlen und jede Zuversicht, selbst jede Befürchtung und erst recht jeder kluge Gedanke. Mehr als das, was man kaufen kann. Mehr als das, was man gebraucht. Wenn ich dir etwas zeigen darf, lass es dein Mehr sein.

Tag für Tag – 19.01.2013

Wortwahl

Wenn ich von mir erzähle und es „Hölle“ nenne, nehme ich dir dann das Wort für dein Erleben?

Spuren im Schnee

Heute habe ich
Spuren im Schnee entdeckt,
vor dem Fenster auf dem Dach
und dachte: Ach!
Wer mag das nur gewesen sein?
Eine Amsel? Sah sie hier rein?
Die Katze war’s! So sieht es aus.
Sie sprang wohl aufs Hinterhaus.
und zog ihre Spur zum Nachbarn rüber,
wo sie den Kater fand
und verschwand!

Audio:

Spuren im Schnee Songline

Tag für Tag – 18.01.2013

Du fehlst

Wie sehr ich wünschte, du wärst da. Im Vorüberziehen deiner Worte nehme ich mir die, die Liebe schreiben. Es ist Ruhe eingekehrt und ich möchte sie halten. Manchmal sitz ich einfach da und mein ganzes Handeln besteht darin, dich zu vermissen.

***

Sie streiten schon wieder. Die Erinnerung kriecht durch meine Poren und ich frage mich, wann das endlich aufhört. Ewige Abfolge zu oft erlebter Déjà-vus. Das Prinzip ist die Nerven nicht wert.