Sein oder Nichtsein

Niemand bemerkte mein Fehlen. Der junge Mann nicht, der sich zur Mittagszeit eingequetscht im überfüllten Autobus wiederfand, der ältere Herr nicht, dem der jüngere vorwarf, ihn bei jedem Zustieg eines neuen Fahrgastes anzurempeln, und die anderen Fahrgäste auch nicht, wie sollten sie auch, lenkte sie doch der seltsame, kordelumrandete Filzhut des jungen Mannes ebenso ab wie die weinerlich beleidigte Diskussion, die er mit dem alten Mann führte, bis er, kaum dass er einen freien Platz erblickte, sich auf diesen stürzte und endlich Ruhe gab.

So wäre ich ein Nichts geblieben, im Fehlen unerkannt, wäre nicht der junge Mann, zwei Stunden später längst dem Bus entstiegen, vor der Gare Saint-Lazare seinem Freund begegnet. War es ein Windzug, der dem Schlacks den langen Hals verkühlte und ihn frösteln ließ, trotz seines Hutes? Was auch immer. „Dir fehlt ein Knopf am Ausschnitt“, sprach der Freund. Und so wurde ich.

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Wenn ich dich frage …

Nein, keine Fragen mehr.
Alles schmerzlich vertraut
wieder da
aber auch
der Weg offen, damit umzugehen,
wie meine Hand.

Appelkitsch

Appelkitsch war groß, blond, blauäugig und vor allem: cool. Von ihm schwärmte die gesamte Teenagergeneration, nicht nur die weibliche. Keiner wusste so genau, was er eigentlich machte, seit er das Gymnasium mitten im Schuljahr verlassen hatte, weil er – wie er sagte – dort nichts lernen könne, was für irgendetwas zu gebrauchen sei. 17 war er – immerhin das wusste jeder. Sommer wie Winter lag er im Schwimmbad und ließ seinen makellosen Körper anhimmeln. Seinen richtigen Namen hatten sie mit der Zeit vergessen, alle nannten ihn nach dem Plastikding, das er um seinen Hals trug: „Appelkitsch“.

Man hätte meinen können, dies außergewöhnlich hässliche Etwas verleihe ihm magische Kräfte. Er trug es auf stolzgeschwellter Brust mit der Würde eines Helden. Wo andernorts Löwenklauen und Tigerzähne Stärke und Tapferkeit bewiesen, dokumentierte Appelkitsch seine Mannhaftigkeit durch ein Apfelkerngehäuse aus Hartplastik. Und die Mädchen standen drauf.
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Petit déjeuner

Wir frühstückten
danach
und dabei
voneinander
– honigsüß –
wow!
und davor.

Spielten
schmeckten
probierten
lachten
leicht, ganz leicht.

Kommst du morgen wieder?

Ausfahrt rechts raus

„Und wenn ich nun …?“ Seit einer Stunde schon die immer gleiche Frage. Ein Gedankenkreisel, der bei jeder Ausfahrt neuen Schwung nimmt. „Und wenn ich nun …?“

Kilometerfressend rast sie über die Autobahn, das Ziel vorgegeben, nicht erwünscht. Wieder einer jener unliebsamen Termine, ungezählt die vorhergehenden, unabsehbar die, die noch kommen sollen. „Geht das immer so weiter, bis zum Ende meines Lebens?“ Autobahnen, eingefahren, Termine, fremdbestimmt, Erwartungen – anderer –, die es zu erfüllen gilt. Doch – gilt es das wirklich?

Das nächste Schild. Ausfahrt rechts raus. „Und wenn ich nun …?“ Vorbei. Verdammt. „Soll das alles sein? Die Autobahn, die Erwartungen, die Richtung? So ist das Leben eben, oder? ODER? Wer sagt das denn? Und vor allem: Hat der, der es sagt, denn recht damit?“ Es ist so einfach. Immer weiter wie bisher. Klappt doch. Hat ja immer geklappt. Und was klappt, macht zufrieden. Zufrieden!

„Was ist Glück? Zufrieden zu sein?“ Zufrieden zu sein macht dankbar, glücklich macht es nicht. Doch auch nicht traurig. Irgendwas dazwischen, irgendwie. Stau in der Baustelle. Die Wagen aufgereiht an einer Perlenschnur. Zufriedene Masse, als es weitergeht.

Drei Kilometer später. Ausfahrt rechts raus. „Und wenn ich nun …?“ Und diesmal: Ja!

Eulenschwestern

Gemeinsam durch die Nacht. Lautlos, verwegen, vom Wind getragen und dem Sturm zum Trotz. Wolfsgeheul ihr Begleiter. Schwärzer als die Nacht noch ihr Ziel, des Zauberers Burg.

Dahin die glücklichen Tage. Der Meister fort, so lange schon. Geschlagen von dunkler Macht nahm er die Verbannung an, auf ewig, schwor er, es sei denn …

„Dein Reich ist nun mein!“ Triumphierend hatte der schwarze Magier vor ihm gestanden und mit ihm dessen Schergen. Verrat war ihr Speer, Lüge ihre Lanze, Gewalt ihre Gesinnung. Sie kannten keine Gnade. Die Sonne versank an diesem Tag und wurde nicht mehr gesehen. Mit ihr ging der Zauberer, wie es der Bann verlangte. Die Nacht blieb zurück und der Sturm und das Donnergrollen. Nicht einmal Blitze erhellten die Dunkelheit. Hundert Jahre schon oder noch länger. Ungemessen die Zeit, seit jenem Tag.

Doch noch bestand Hoffnung. Einen Schimmer hatte der Magier gewährt, sich seiner Kräfte zu sicher: „Ewig sei mein Sieg! Verbannt sollst du sein aus meinem Reich der Nacht und mit dir jedes Wesen, das von der Sonne genährt. Deine Burg sei mein Schild, deine Künste mein Spiel, dein Verderben mein Genuss. Verzweifle an der Hoffnung, die sich nie erfüllt, dass man zu mir trägt, was ein Wesen der Nacht nie tragen kann. Und nun hinfort!“

Zwei Eier nur im Nest. Die alten Eulen bewachten das Muttertier. Sollte es sein, dass sich die Legende erfüllte? Seit dem Tag der ewigen Dunkelheit erzählten sie sich, dass zwei von ihnen es sein würden, die den Bann des schwarzen Magiers brachen. Zwei aus einem Gelege, Schwestern ohne Geschwister. Die Alten warteten eine Woche, zwei. Kein weiteres Ei kam hinzu. Und als die Küken schlüpften, waren es Weibchen.

Stark mussten sie werden, sehr stark. Stark genug, das Amulett zu tragen, das der Zauberer zurückgelassen hatte. Er selbst war verbannt, doch das Amulett, das seinen eigenen Zauber trug, nicht. So bewahrten es die Eulen bis zu dem Tag, da es Erlösung bringen sollte von ewiger Finsternis. Der Funken eines Sonnenstrahls war in ihm verborgen.

Gemeinsam durch die Nacht. Lautlos, verwegen, vom Wind getragen und dem Sturm zum Trotz. Wolfsgeheul ihr Begleiter. Schwärzer als die Nacht noch ihr Ziel, des Zauberers Burg. Lange hatten sie ihre Kraft erprobt für diesen Tag. Immer wieder geübt, sich gemessen mit den Alten. Verantwortung und Verwegenheit nun in der Waage. Wie ihr Flug. Synchron der Flügelschlag, blind das Verstehen, jeder Richtungswechsel zeitgleich. Um den Hals von beiden, das Amulett.

Der Funke traf des schwarzen Magiers Auge, als er erwachte. Lautlos die Eulen über ihm, nicht wahrgenommen, als sie durch das Fenster kamen, ihr Flügelschlag zarter als ein Lufthauch. Er schrie. Den ersten und den letzten Schrei in einem. Und mit der Sonne kam auch der Zauberer zurück.

Heute Morgen

Früh aufgestanden
und unterwegs
bei Dunkelheit,
im strömenden Regen,
die Ampel rot,
die Schranke runter.

„Chasing cars“ im Radio.
„If I lay here…
Forget what we’re told…”
Ich drehe auf.
Das Radio
und meine Stimme.
Der Tag fängt gut an.

Ganz in mir

Weißt du,
wenn ich mit der Hand über die Holzplatte streiche,
aus der mein Tisch entsteht,
wenn ich die Kanten fräse und die Schlitze stemme,
die die Zargenzapfen aufnehmen,
wenn ich alles schleife und dabei der Richtung der Maserung folge,
bis es ganz glatt ist,
wenn ich meinem Vater dabei zusehe,
wie er – einen mir unbekannten Plan im Kopf –
die Schritte vorgibt, die wir tun,
wenn ich dann sehe, wie aus diesem Holz
mein Unikat entsteht,
das mich begleiten wird
und erinnern,
daran, wie wir es schufen,
dann bin ich
ganz
in mir.

Jahreswechsel

Die Geschichten dieses Jahres
sind alle erzählt.
In ein paar Stunden
schreibt das nächste Jahr neue.
Vielleicht lässt es mich ja
einen Teil meiner Geschichten selbst erzählen:
die fröhlichen, die zielstrebigen, die leichten.
Davon würde ich dann zehren,
um die Geschichten durchzustehen,
die das Leben mir schreibt,
ohne mich auch nur ein Wort
mitreden zu lassen.

Cogito ergo sum?

Hab lang nicht mehr so intensiv gefühlt,
hab lang nicht mehr so intensiv gelebt
wie dieses Jahr.
Vielleicht macht nicht primär das Denken,
sondern das Fühlen das Leben aus.