In Fleisch und Blut – Memento vivere

Einen peppigen Horrorpsychothriller hat Frederike Witt mit ihrem Debütroman da abgeliefert. Obwohl der Plot über viele Schichten und Ebenen verfügt und sich der Schreibstil durch eine gewisse Verziertheit auszeichnet, ist das Werk hübsch knackig. So ausgefeilt die Sprache ist, es wird kein Wort mehr als nötig gesagt, um die Handlung voranzutreiben. Dieses Unterfangen gelingt dank der präzisen Szenenbeschreibung und der aufs Wesentliche beschränkten Figurenzeichnung. Letzteres erweist sich speziell bei der obligatorischen Auflösung als Glücksfall, verstärkt es doch den Aha-Effekt. Was zu Anfang noch psychologisch eindimensional anmutet, wird auf den letzten Seiten frappant logisch. Pfiffig, dieses Spiel mit den Erwartungen!

Die Jungautorin beweist bei der konkreten Ausgestaltung der Grundidee viel Gespür für Gefahrensituationen und ein gehöriges Fachwissen über Psychologie. Zugegeben, das Konzept „Fiktion vermengt sich mit Realität“ ist nicht neu. In diesem Bereich gibt es bereits jede Menge Stoff. Aber entscheidend ist immer, was man daraus macht, und Frederike Witt gewinnt der strapazierten Thematik einige originelle Aspekte ab.

Immer, wenn man meint, die Pointe dieses Nägelkau-Anstifters erraten zu haben, merkt man kurz darauf, dass jene bloß der Aufhänger für ein neues, anders gestricktes Szenarium ist. Das hält die Sache im Fluss, und eh man sichs versieht, ist man auch schon durch mit diesem nicht gerade dicken Buch. Findet man sich zuerst in einem klassischen Splatterplot wieder, wähnt man sich plötzlich im Cyberspace, um anschließend durch eine angegriffene Psyche zu wandern. Pünktlich zum Schlussakt landet man dann endlich im Hier und Jetzt. Oder etwa nicht …?

Mit einer fast schon lustvollen Unverfrorenheit setzt sich Frederike Witt über die für die Handlung zwangsläufigen Brüche hinweg. Mit langatmigen Erläuterungen hält sich die gebürtige Hamburgerin nicht auf. Soll der Leser doch selbst denken. Nötig sind derartige Zwischendrinerklärungen eh nicht, wie das Ende zeigt. Aus dieser Haltung entwickelt sich ein recht neckisches Hase-und-Igel-Spiel zwischen der Autorin und ihrer Leserschaft. Auch eine große Stärke des Werkes: Obgleich die Settings häufig wechseln, kann man dem Geschehen mühelos folgen. Es kommt zwar Rätselhaftigkeit auf, aber keinerlei Verwirrung. Alles verläuft stringent. Ein bisschen Effekthascherei in Form von ausgesuchten Brutalitäten darf indes nicht fehlen. Aber auch dies hat seinen Sinn, beschränkt sie sich doch auf den Anfang und dient vor allem dazu, eine (falsche) Fährte zu legen.
Fazit: Ein handwerklich gelungener, für Genreverhältnisse erfreulich ungewöhnlicher Kurzthriller.

Frederike Witt: In Fleisch und Blut – Memento vivere
ISBN 9783938297865, Flexibler Einband, Krimi/Thriller/Horror, erschienen am 15.10.2009 bei HolzheimerVerlag

Memento vivere

Leseprobe:
Und dann fiel ich. In eine schwarze Dunkelheit ohne Anfang und ohne Ende. Hier und da erhellten Lichtpunkte die Umgebung, die sogleich wieder erloschen, sodass ich zweifelte, ob ich mich zu schnell an ihnen vorbeibewegte oder ob ich schwebte. Mein Gefühl für Zeit verschwand. Ich befand mich seit Stunden in diesem Zustand, vielleicht auch erst seit einigen Minuten. Ab und zu versuchte ich, mir der Situation klar zu werden, doch dieser Wille verschwand in einer nebligen Unbewusstheit, einer trägen und zähen Unmöglichkeit, die Zusammenhänge zu verstehen. Mein Verstand war ausgeschaltet, meine Reflexe gleich null, nur meine Augen gehorchten, wenn auch nicht mir. Und dann kamen sie. Lange Lichtpfeile schossen mit einer ungeheuren Geschwindigkeit an meinem Kopf vorbei und erhellten die Dunkelheit. Ja, sie machten die Schwärze, die mich umgab, noch sichtbarer… Wo fängt die Realität an? Wo hört sie auf?

  • Hört sich spannend und etwas verwirrend an, aber es löst sich ja offensichtlich am Ende alles auf 😉 – oder etwa nicht?
    Die Leseprobe ist mir zu transzendent, ich hätte lieber was Handfestes, das neugieriger macht.

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