Christbäume

Die Verdunkelung umfängt uns wie ein schützender Mantel. Kein Lichtschimmer dringt nach außen. Gleichzeitig gibt sie den Gedanken Raum für Vermutungen, für Angst. Wer weiß, was da draußen passiert, was uns noch erwartet.

Ich fühle das Streichholz in meiner Hand, entzünde eine Kerze, die den Raum in ein flackerndes Licht taucht. Jetzt kann ich die Gesichter meiner Kinder erkennen. Sie schlafen. Tief und fest. Anneliese, mit acht Jahren die Älteste, hat sich gewundert, als ich erlaubte, dass sie alle drei im großen Bett schlafen durften.

Das große Bett. Unser Ehebett. Normalerweise ist es für sie eine Belohnung in den frühen Stunden am Sonntagmorgen. Im Moment eine Beruhigung für mich. So habe ich sie in meiner Nähe, kann mich an die Illusion klammern, sie im Ernstfall beschützen zu können. Jetzt hat sie die große Federbettdecke bis unter die Nasenspitze gezogen, so dass nur noch ihr blonder Haarschopf mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen herausschaut.

Mariele, unserer Vierjährigen, fallen immer wieder die widerspenstigen roten Locken über das Gesicht, wenn sie sich unruhig im Schlaf wälzt.

Ich versuche, mich in eine bequemere Position zu drehen, ohne dass unser Nesthäkchen Gerd aufwacht. Er ist gerade an meiner Brust eingeschlafen. Gott sei Dank habe ich noch genug Milch, um ihn zufrieden zu stellen.

Plötzlich höre ich Gepolter im Treppenhaus, fast zeitgleich dringt das Heulen der Sirenen wie ein Messer in meine Brust. Die Schlafzimmertür wird aufgerissen. Im Halbdunkel erkenne ich den Schatten, der vor mir steht. Paul, mein Mann.

„In den Keller! Los, schnell! Diesmal ist es keine Übung.“ presst er halblaut hervor, fast als wolle er die Kinder nicht aufwecken. Seine Stimme ist anders als sonst, ist geprägt von einer Anspannung, die Gefahr assoziiert.

Ich erstarre kurz, das Pochen in meinen Schläfen verstärkt sich. Werden wir wirklich angegriffen? Fängt dieser Wahnsinn jetzt auch hier an, in unserer Stadt?

Ich schüttele Anneliese, sie schlägt die Augen auf und erhebt sich wie in Trance. Sie weiß Bescheid, immerhin ist es in dieser Woche schon das dritte Mal, dass der Luftalarm unsere Nacht unterbricht.

Paul nimmt Mariele auf den Arm, wir greifen nach den schon bereitstehenden Taschen, hasten und stolpern die Treppe herunter bis in den vorbereiteten Kellerraum.

„Ich schaue nach dem alten Bergemann!“ ruft Paul und stürmt wieder die Treppe hinauf. Trotz seiner Beinverletzung, die ihn vor der Einberufung bewahrte, eilt er in großen Schritten die Stufen nach oben zur dritten Etage, wo der fast taube Nachbar wohnt.

Im Keller treffen wir auf weitere Hausbewohner. Wir setzen uns auf die vorbereiteten Holzpritschen, für die Kinder sind Etagenbetten aufgestellt. Ich sehe in schreckerfüllte Gesichter. Grau, übernächtigt, verzweifelt. Einige sind nur mit einem Schlafanzug bekleidet, hatten keine Zeit mehr, sich anzuziehen

Hier unten im Keller ist es feucht und kühl. Wir versuchen uns mit Wolldecken zu wärmen, rücken eng zusammen, als wolle die Nähe des anderen uns vor Schlimmerem bewahren. Frau Koopmanns aus der Parterrewohnung sitzt neben mir, sie bewegt die Lippen. Ein stummes Gebet.

Mir gegenüber kauert Frau Piepenkötter mit ihrer halbwüchsigen Tochter. Normalerweise eine lebenslustige Frau, die sogar tagsüber Lippenstift benutzt. Jetzt zittert ihre Unterlippe, die Hände verkrampfen sich auf ihrem Schoß.

Ein gellender Schrei lässt mich zusammenzucken.

„Christbäume!“

Paul stürmt in den Kellerraum, hinter ihm Herr Bergemann.

„Sie werfen Christbäume ab!“ wiederholt er und Sekunden später erzittert das Gemäuer unter einem Bombeneinschlag. Das Licht verlöscht, schnell zündet jemand eine Kerze an. Eine Frau schluchzt auf, ein Baby weint. Bis jetzt hatten wir uns im Keller sicher gefühlt, war es doch noch nie zum Ernstfall gekommen.

Staub vertreibt die Feuchtigkeit. Obwohl die Fenster zugemauert sind, dringt Asche durch Ritzen, lässt unsere Augen tränen. Anneliese hustet, hat die Hände vor das Gesicht gepresst. Mariele kriecht fast in mich hinein, sie weint leise. Gerd schläft unbeeindruckt weiter.

Paul schleppt Decken heran. Sie sind mit Wasser getränkt, das in die Wäschebottiche der nebenan liegenden Waschküche gefüllt wurde. Egon, unser Hausmeister, gesellt sich zu ihm. Ich bin froh, dass er Paul jetzt zu Hilfe kommt.

Wieder und wieder schleppen sie zu zweit nasse Decken und Laken in unseren kleinen Luftschutzkeller und legen sie über uns, damit wir in der mit beißendem Rauch geschwängerten Luft noch atmen können. Wir sind sprachlos geworden. Niemand kann seine Furcht in Worte fassen. Jeder ist mit seinen Gedanken, seinen Ängsten allein. Trotz der räumlichen Nähe, die oberflächlich Schutz verspricht.

Immer wieder bebt der Boden, rieselt Mörtel von der Decke.

Es wird heißer. Ob es brennt? Hier in unserem unterirdischen Gefängnis haben wir keinen Kontakt zur Außenwelt. Ich ziehe ich meine Kinder nah an mich, bete still, dass ich sie beschützen kann. Angst kriecht durch meinen Körper, breitet sich in mir aus wie ein Geschwür.

Plötzlich kommt Paul zu uns, die Arme voll mit nassen Decken.

„Wir haben kaum noch Wasser, die Bottiche sind leer. Wir müssen raus!“

Von einer Seite regt sich stummer Protest. Gertrud, eine junge Frau, die mit ihren beiden Kindern neben Frau Piepenkötter sitzt. Sie schüttelt den Kopf, wieder und wieder. „Nein, nein, nein“ schluchzt sie, Tränen laufen ihr über die Wangen.

„Wenn wir nicht bald hier rauskommen, werden wir alle ersticken!“ bestätigt Egon Pauls Worte.

Wieder erzittern die Mauern. Als wäre das ein Startsignal, springen alle Hausbewohner fast gleichzeitig auf und suchen den Weg nach draußen.

Paul wirft uns die mit dem letzten Wasser getränkten Decken über den Körper. Wir stolpern durch das, was einmal ein Treppenhaus war.

„Schneller, schneller!“

Paul treibt uns an. Er zerrt an uns, bis wir endlich vor dem Haus auf der Straße stehen.

Ich drehe mich um. Die beiden oberen Stockwerke gibt es nicht mehr, von der ersten Etage fehlt die vordere Wand. Aus der Haustür kommen die letzten Nachbarn, hasten mit uns auf die andere Straßenseite. Brennende Teile von dem, was einmal Möbel oder Hausrat war, fallen aus dem ersten Stock vor uns auf die Straße.

Plötzlich verändert sich der Luftdruck, Teile der vorderen Hauswand stürzen in sich zusammen.

Unser Haus. Gibt es nicht mehr. Nichts mehr.

Anneliese schaut mit schreckgeweiteten Augen auf das, was einmal ihr Zuhause war. Kann ein Kind das verstehen? Kann ein Mensch das überhaupt verstehen?

Sie zerrt an meiner Hand.

„Mama. Mama, mein Klavier. Ich muss doch üben.“

Tränen laufen ihre Wangen herunter. Ich ziehe sie an mich, gebe ihr das Versprechen, dass wir bald ein Neues besorgen werden. Aber wann ist bald? Gibt es ein Bald für uns?

Auch Mariele weint jetzt. Wir laufen noch ein Stück weiter die Straße entlang, um den brennenden Teilen, die immer noch umherfliegen, zu entgehen.

Auf unserer Straße laufen viele Menschen durch die Nacht. Manche sind verletzt, humpeln oder kriechen, schreien. Anneliese hält sich die Ohren zu, zittert am ganzen Körper. Kann ein Kind das verkraften? Den Anblick der Zerstörung von Häusern, von Menschen? Ich kann sie nicht davor bewahren, kann nur hoffen, dass diese Bilder sich nicht zu tief in ihre Kinderseele brennen.

Die Bombenabwürfe haben scheinbar aufgehört, das Dröhnen der Flugzeuge ist nicht mehr zu hören. Ob dieser Wahnsinn nur eine Pause macht?

Wir kauern uns in einen fremden, noch intakten Hauseingang, eng aneinander geschmiegt, zitternd ob der Unfassbarkeit des gerade Erlebten. Wir haben nichts mehr. Keine Möbel, keine Kleidung, kein Heim. Was das für uns bedeutet, wird mir jetzt langsam bewusst.

Als der Morgen dämmert, erhebt sich Paul. Er überquert die Straße bis zu den Resten unseres Hauses, ritzt mit einem Messer in die roten Ziegelsteine.

Alle leben.

  • Ein packender, spannender Text, der die Geschehnisse emotional nachvollziehbar wiedergibt.
    Guter Einstieg! Willkommen bei den Netzkritzlern. 😀

  • Ja, sehr ergreifend, vor allem das offene Ende ist ergreifend. Alle leben, Hoffnung, aber wie?
    Ich freu mich schon auf mehr von dir.

    • Die auch Danke, wenn du dich auf mehr von mir freust: ich schreibe nicht immer so Trauriges.

  • Ja, Deine Christbäume sind besonderer Art.
    Willkommen.

    • Hallo Maultrommler, danke für dein Willkommen.
      Ich denke, dass du(und die anderen hoffentlich auch) weißt, um welche Art Christbäume es sich hier handelt.

      • Das waren speziell entwickelte, lang leuchtende Brandbomben, die die Ziele für die folgenden Bomber ausleuchten sollten.

        • So war´s. Die Geschichte hat sich übrigens so ähnlich zugetragen, die kleine Anneliese ist meine Mutter. Sonst schreibe ich allerdings nichts mit autobiographischem Hintergrund, ich habe mehr Spaß daran, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen.

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