der dort oben
der dort oben onaniert im Stundentakt hat einen Brief geschrieben weil er emails verteufelt wie diese ganze verdammte Technik
der dort oben schläft ohne Laken auf einer Federkernmatratze zeichnet Luftballons mit Kohle auf Büttenpapier trägt ein Piercing liebt Symphonien von Gustav Mahler glotzt aus dem Fenster tötet mit seinem Blick Vögel pinnt mit winziger Handschrift Anmerkungen in Bücher deren Sinn er bestenfalls halb versteht
der dort oben hat seinen Kleiderschrank mit einem Vorhängeschloss gesichert drei Kinder gezeugt
der dort oben schluckt einen Liter isotonische Brühe um dem Mineralverlust bei Hitze entgegenzuwirken fürchtet sich Namen zu vergessen
der dort oben weiß nicht dass es mich gibt
der dort oben weiß nichts von meiner Existenz sein Fußboden ist meine Zimmerdecke ein Ding mit zwei Bezeichnungen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet je nach dem Grenze Beton Mauer durchlässig lediglich für eine Ahnung von Leben jenseits das Geräusch von Schritten Husten Klospülung
der dort oben weiß nichts von mir hier unten zwischen uns beiden eine unsichtbare Schicht aus Isolation und Schweigen lediglich mathematisch nachweisbar wie ein kaum vorstellbarer kleinster Punkt so eindimensional wie konkret in seiner Wirkung
ich hier unten schlafe mit zwei übereinander getragenen langen Hosen und einem Fleecepullover zähle die Tage bis zur Sonnenwende finde mein Spiegelbild in Protagonisten japanischer Animes
ich hier unten schreibe Gedichte für Hemdentaschen Schublaben Schuhkartons Niemanden
ich hier unten weiß nichts von dem dort oben ahne nichts von Gemeinsamkeiten reibe mich nicht an Trennendem
ich hier unten
ich hier nebenan zwanzig Zentimeter Lichtjahre entfernt getrennt durch diese Demarkationslinie die den Beton zerschneidet
der drüben nebenan lässt beim Zähneputzen Wasser laufen hat die Zeit abonniert läuft barfuß über zerkratztes Laminat
dem drüben nebenan ist der diagonal oben scheißegal wie ich hier links nebenan für ihn nicht existiere ebenso wenig wie der weit unter mir in seinem Kosmos gefangen lebt
und ich
und ihn
und sie
uns alle
verbindet diese gemeinsame Grenze des
großen grauen
Nichts
(Roger Sponheimer)
Mumpitz
10. Jan 2012
Eine Grenze, die verbindet. Ich sehe den da unten im Bett liegen und das Leben belauschen. Schöne Ghettolyrik.
Songline
11. Jan 2012
Vor meinem inneren Auge ein Bienenkorbhochhaus, im Ohr „Lass die Leute reden“, im Verstand die Unterscheidung von Fakt ist und Vorurteil, lehne ich mich jetzt mal entspannt zurück und genieße das Ganze nochmal.
Guter Text!
aletheia
12. Jan 2012
Bei mir ist das genauso wie bei Songline: ich sehe die engen Waben eines Hochhaus-Ghettos, verwahrloste Gebäude, hoffnungslose Bewohner, einer dem anderen eine Ohrlänge voraus…wie auch immer.
Klasse Text! Ich weiß auch nicht warum: bei dem habe ich das Gefühl, er hätte konsequent klein geschrieben sein sollen (obwohl ich das normalerweise nicht mag).