Die Maibowle

Sie war schon zu einer Art Institution geworden. Jedes Jahr im Frühling, wenn das Fell begann zu jucken, erste Mückenstiche beklagt wurden, griff ich zum Hörer und rief gute Freunde zusammen. Bis ein allgemein Zuspruch findender Termin gefunden war, wurde es Juni. Der Freitag oder der Samstag kamen infrage, da die gemeinhin Werktätigen Wert darauf legten, das Haupt nach der Bowle nicht in unnötige Schwingungen zu versetzen.

Die schädlichen Wirkungen des Alkohols sah man dem Getränk keineswegs an. Angesetzt schon am Vortag, schimmerte aus dem größten Gefäß des Hauses ein grünes Leuchten. Die Früchte, welche sich über Nacht einer Intensivbehandlung durch Hochprozentiges unterzogen, sackten allesamt bis zum Grund, und warteten auf neugierige Fischer. Waldmeister durfte nicht fehlen. Und so dümpelte wie ein Schiffbrüchiger ein Zweiglein dieses feinen Waldkrautes an der Oberfläche eines Gefäßes, das einst zum Wochenendbad genutzt wurde. Als Ummantelung des uncharmanten Monstrums wickelte ich grünes Krepppapier darum. Harausragend sei noch zu erwähnen die Schöpfkelle. Vor dem Probieren und den ersten Gästen schluckte ich Aspirin, das so wirkungslos war wie ein morgendlicher Schwur gerade heute Abend mit dem Rauchen aufzuhören.

Aus anfänglich einer handvoll Gästen entwickelte sich durch Mundpropaganda das Szenario, in welchem 40 Personen nach Halt suchten in einer 33 Quadrat Dachgeschosswohnung. Ich begrüßte die Maikäfer und -rinnen durch vierzigfaches „Kommt herein!“, bis ich selbst nach draußen gedrängt wurde. Die anderen Hausbewohner suchten meist Verwandte auf oder machten gleich Urlaub. Der Hund im Paterre bekam Beruhigungsmittel, die Nachbarin unter mir nagelneue Ohrstöpsel aus der Apotheke.

Meine Wohnung hatte Platz für zwei aufgestellte Wäschespinnen und bestand im Wesentlichen aus dem Wohnzimmer, das durch den Flur mit der Küche verbunden war. Der Firma VELUX sei heute noch Dank, dass sie eine Sturmverriegelung in ihren Fenstern anbot, aus denen ich etwas Luft hereinlassen konnte, ohne dass jemand heraus fiel. Die Party konnte beginnen!

Deutschland bestand noch aus der handyfreien Zone, die Menschen waren der Sprache mächtig und machten davon reichlich Gebrauch. Das Alphabet wurde voll ausgenutzt. Zischlaute bevorzugt. Gänzlich nüchtern blieb der, der meine Wasserschorle trank. Ein Gemisch aus Sprudel mit einem Schuss Wasser ohne Kohlensäure. Ich hortete das Jahr über diverse Flaschen mit grünem bis braunem Inhalt, und ließ sie „heRum“ stehen. Musik musste regelmäßig gewendet werden, Schallplatten sowie Kassetten speicherten liebliche und klagende Gesänge bekannter Größen bis auf Heintje, der bei mir Hausverbot hatte. Ich mochte keine Kinder, die ständig nach ihrer Mama riefen.

Wer am Lautstärkeregler saß war im Vorteil. Die Beleuchtung war der eines Bergwerks nicht unähnlich. Gedämpft schimmerten Gesichter, die noch heute behaupten, an dem Abend gar nicht dabei gewesen zu sein. Einer wollte sein Klavier mitbringen, ein anderer schaffte es mit einer Gitarre. Die Toilettenfrage wurde spätestens dann brisant, als sich Experten darin einschlossen, nicht sich vorher mit genügend Proviant einzudecken. Der Schlüssel des Nachbarn war der Schlüssel zum Glück. Ich bekam ihn vertrauensvoll, und stockte seine Papierrollenvorräte am Folgetag wieder auf.

Ein Schwarzlicht sorgte dafür, dass auch Unsichtbares zur Geltung kam, denn es hatte Röntgeneigenschaften, die vor keinem Weiß halt machte. Bei diesem Licht konnte man philosophieren wie Kant, und auf die Welt schimpfen oder auf die Unterwäsche. In jedem Fall aber war damit zu rechnen, dass sich die Teilnehmerzahl im kommenden Frühling erweitern würde. Ein Umzug würde anstehen, aber hätte das jenes Flair wie damals, als ich neben einem Schäferhund aufwachte, der gar keine Einladung hatte? Ich glaube nicht.

  • Ich hätte ja nur allzu gern gesehen, wie einer ein Klavier mitbringt.
    Solche Erinnerungen sind Schätze, die man sich ein Leben lang bewahrt. Schön beschrieben.

  • So bewahrt und erweckt man Erinnerungen. Ich lese Parallelen heraus! 🙂

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