Alt

Du redest, ich höre dir zu. Ich hab keine Lösung parat, ich weiß nicht, wie ich helfen soll, aber – ich merke, das Reden tut dir gut. Du sprichst davon, dass es schwer für dich ist, deine Mutter so leiden zu sehen. Sie war immer so aktiv und stand mit beiden Beinen mitten im Leben, sagst du. Nie war sie krank. Und nun – kannst du sie kaum unbeaufsichtigt lassen. Alzheimer ist die Diagnose. Wie soll das werden, fragst du mich – wie sieht das Leben aus, mit ihr und überhaupt – was bleibt denn noch? Keine Nacht schläfst du durch, ständig hörst du auf das Telefon, ob etwas mit ihr ist, dein Tag dreht sich nur um sie…kannst du dir das vorstellen, wie das ist, höre ich dich fragen. Während ich dir versichere, dass ich mir das durchaus vorstellen kann, schweifen meine Gedanken ab.

Szenenwechsel

In der Buchhandlung. Die ist an diesem Mittag gut besucht. Die alte Frau, die verlassen im Verkaufsraum herumsteht, nehme ich nur schemenhaft wahr. Bin zu sehr beschäftigt mit meiner Bücherauswahl. Sie läuft durch den Laden, mal hier hin, mal dort hin und sie scheint auf jemanden zu warten. Einfach so.
Ich werde aufmerksam, als eine jüngere Frau auf sie zukommt, ihre Hand nimmt und sie leise anspricht: „Kommst du – Mama?“
Die ältere Frau blickt der Jungen ins Gesicht, schaut sie prüfend an und fragt: „Gehörst du zu mir?“
„Ja, Mama. Ich gehöre zu dir“, antwortet ihre Tochter beruhigend und führt sie behutsam aus dem Geschäft heraus.

Ich schaue beiden nachdenklich hinterher…

Szenenwechsel

Beim Friseur. Sohn bringt seine Mutter zum Haareschneiden. Als die Mutter gebeten wird, sich auf einen Stuhl vor dem Spiegel zu setzen, fängt diese an zu schreien. Sie will nicht. Sie will an der Hand ihres Sohnes bleiben. Der redet beruhigend auf sie ein: „Es passiert doch nichts, Mutti. Du wirst jetzt schön gemacht. Deine Haare werden geschnitten.“ „Tut das weh?“, fragt sie…und fängt wieder an zu schreien, als die Friseuse ihr die Haare waschen will.

Ich hoffe, dass meine Kinder mir einen Gefallen tun, wenn ich alt und verwirrt bin – und mir das hier ersparen werden…, sagt meine Friseuse, als die beiden gegangen sind.

Szenenwechsel

Samstag nachmittag bei einem Spaziergang in einer niederrheinischen Kleinstadt.
‚Arche Noah‘ lese ich. Ein Tagesheim für Senioren. Idyllisch liegt es, die großen Fenster ermöglichen einen Ausblick auf die umliegenden Felder und Wiesen und erlauben gleichzeitig einen Blick ins Innere des Heimes – Parkettboden, warme Farbgestaltung und geräumige Zimmer.
Die alte Dame, die dort am Fenster steht, hat keine Augen für die schöne Landschaft. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Der Blick geht ins Leere.
Ich mag gar nicht hinschauen, komme mir indiskret vor und doch – ich merke, sie nimmt mich gar nicht wahr. Sie ist allein mit ihrem Schmerz.
Und wartet.
Auf was?

Die Begegnung ist ein paar Monate her, aber ihren Gesichtsausdruck werde ich nicht vergessen.

Ich höre dir wieder zu. Du sagst mir, dass ich froh sein könne, keine Eltern mehr zu haben und du sagst gleichzeitig, dass du weißt, wie egoistisch das klingt.

Doch – ich weiß ja, was du denkst, ich weiß, was du fühlst und ich weiß, wie du das meinst.

Aber – wenn wir beide alt sind, möchten wir doch auch, dass da jemand ist, der sich um uns kümmert?

  • Ein einfühlsam geschriebener Text.
    Ja, wir möchten jemanden haben, der sich um uns kümmert, aber doch zugleich niemandem zur Last fallen.
    Ich wünschte mir, ich könnte sterben wie mein Opa, der – 96-jährig – sich am Morgen seines Todes noch ins Bad begab, sich fein machte, sich dann ins Bett legte und starb, als meine Tante mit dem Morgenkaffee gekommen war.
    Aber wir können es uns nicht aussuchen.

  • Sehr bewegender Text!

    Kennst du das Lied von Herbert Grönemeyer „Deine Zeit“? Er hat das für seine Mutter geschrieben, die auch an Alzheimer erkrankt ist. Dieses Lied bewegt mich auch sehr, mir kommen jedesmal die Tränen.

    „Du lächelst Schicksal an
    Lehnst Dich sehr nah heran
    Ohne Not und Wehr
    Dein Zauber wirkt, nimmt alte Schatten fort
    Und Du behältst Dein Wort“

    Ich weiß nicht, ob man es auf youtube findet. Hör es dir mal an. Und deine Freundin auch. Ich finde, es spendet Trost.

  • Ab wann ist man alt, frage ich mich. Geht es nicht vielmehr um Hilfsbedürftigkeit und Verlust der Eigenständigkeit?
    Ich wünsche mir, dass ich Hilfe annehmen kann, wenn ich sie benötige. Dass ich Vertrauen haben kann und weder Scham noch Schuldgefühle. Menschen sind zum Helfen geboren. Solange sie anderen Menschen etwas geben können, was auch immer, sollen sie es tun. Sobald sie es nicht mehr können, dürfen sie die Hilfe anderer bedenkenlos annehmen. So klingt es irgendwie richtig, aber so ist es natürlich nicht immer.

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