Der Boden unter ihren Füßen

Schlagartig fiel ihr die Szene vor Jahren wieder ein.
Sie hatte das Gefühl gehabt, der Boden würde ihr unter ihren Füßen weggezogen. Sie stürzte. Tief.

Er mit ihr.
Ganz vertraut. Eng nebeneinander sitzend, sich anlächelnd und sich unterhaltend.
Sie war der Störfaktor gewesen, sie spürte es. Ihr Unwohlsein, ihre Intuition, dass da irgendetwas vor sich ging zwischen den beiden, betrog sie nicht.
Es war eine Lüge. All die Jahre. Lange Jahre.

Sie schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf. Ging die Stufen hinunter ins Wohnzimmer. Es waren noch dieselben Stufen wie gestern, und doch waren sie anders.
Mit fiebernden Händen suchte sie die CD von Pe Werner, sie wollte sie sich anhören, jetzt, es passte gerade so gut, fand sie, auch wenn es weh tat.

Kein Lippenstift auf seinem Kragen…kein fremder Duft auf seiner Haut, keine Spuren auf seinem Hemd, aber das hat alles nichts zu sagen, seine Gedanken gehen fremd

Die vielen kleinen Anzeichen seiner Abwesenheit, auch wenn er da war, die langen Nächte allein in ihrem Bett, die Spuren, die sie fand, und doch nicht fand und seine ständigen Beteuerungen, dass da rein gar nichts sei. Beteuerungen, die sie ihm geglaubt hatte. Seine Blicke, die an ihr vorbeigingen. Augen, die sie nicht anschauten, wenn er mit ihr sprach.

Er trägt ihr Bild in seinem Herzen, es macht ihn seltsam unnahbar, die Augen strahlen wie Wunderkerzen, nur ihre sind dem Heulen nah.

Nach einiger Zeit hatte sie geglaubt, sie würde sich das alles nur einbilden. Nach Monaten war sie davon überzeugt gewesen, sie wäre nur krankhaft eifersüchtig. Nach Jahren glaubte sie schon fast, sie wäre tatsächlich paranoid gewesen.
Am Ende war es ihr egal geworden. Er war ihr egal geworden. Die Gleichgültigkeit zog ein in ihr Haus.

Kein Lippenstift auf seinem Kragen, keine Haare auf dem Jackett, das hat alles nichts zu sagen, er nimmt ihr Lächeln mit ins Bett. Der Zweifel schleicht in ihre Träume, stellt er ihr Herz aufs Abstellgleis. Pflanzt er neue Apfelbäume, und wenn ja, um welchen Preis?

Schweren Schrittes stieg sie die Stufen wieder hoch, dieselben Stufen wie gestern noch, und doch waren es andere geworden. Der Boden in ihrem Haus trug sie nicht mehr. Sie nahm den Karton mit den Fotos und den Liebesbriefen, die sie ihm geschrieben hatte, und warf den Inhalt in einen Mülleimer. Seltsam unbeteiligt sah sie zu, wie alles heraus fiel.
In die leere Schachtel legte sie ihr Herz, ihren Stolz und ihren Schmerz. Und ein paar Jahre ihres Lebens.
Dann schrieb sie mit großen Buchstaben auf den Deckel:

FREI

Doch glücklich fühlte sie sich dabei nicht.

Lyrics von Pe Werner’Kein Lippenstift auf seinem Kragen‘

  • Ein schönes Lied, ich kenne es. Und eine so schwierige Situation, die du da beschreibst. Warum geht er nicht? Aus Feigheit? Aus Bequemlichkeit? Um die Sicherheit seines Lebens nicht zu verlieren? Eines ist jedenfalls sicher: für ein dauerhaftes gleichgültiges Nebeneinander ist das Leben zu schade. Und zu einmalig und unwiederbringbar. Und zu kurz.

  • Ich kenne das Lied nicht, doch es hindert mich nicht daran die Tragik Deines Textes zu spüren. Die Erkenntnis über den Verrat schmerzt und auch wenn es richtig ist sich loszusagen, sich weiteren Verletzungen zu entziehen, ist es ein trauriger Abschied. Intensiv!

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