Eine belanglose Begegnung?

Wenn ich zu meinem Dienst fuhr, morgens um halb sechs, sah ich ihn auf dem Radweg rechts neben der Landstraße in Sportkleidung seine Runde drehen. Welche Runde das war, wie viele Kilometer er regelmäßig zurücklegte, konnte ich nur erahnen. Ich schätzte, es waren so an die zehn Kilometer, die er lief und das ziemlich zügigen Schrittes. Fuhr ich nachmittags um halb vier zum Spätdienst, sah ich ihn erneut.

Ich wusste lange Zeit nicht, ob auch er mich wahrnahm – wie viele Wagen fuhren wohl während seines Spazierganges an ihm vorbei und wie viel registrierte er von dem, was um ihn herum geschah? Er schien immer in sich selbst versunken, hing vermutlich seinen Gedanken nach.

Anfangs scherzten meine Kollegin und ich, die manchmal gemeinsam fuhren, über ihn – morgens um halb sechs sind nur die auf der Straße, die wie wir zur Arbeit müssen, aber freiwillig läuft doch wohl keiner durch die Wallachei?
Er beschäftigte uns. Was bewegte ihn dazu, jeden Tag unerbittlich seine Runde zu laufen? Und die gleiche vermutlich auch nachmittags? Wir konnten das abschätzen, denn an manchen Tagen mussten wir zum geteilten Dienst – fuhren morgens und nachmittags dieselbe Strecke und jedes Mal trafen wir ihn.
Das heißt, es war ja kein Treffen im eigentlichen Sinne. Wir begegneten uns nur und das Kuriose war – trotz unterschiedlicher Geschwindigkeit, Abweichungen von den Minuten, in denen ich von meinem Zuhause losfuhr und verschiedenen Ampelschaltungen traf ich ihn immer am selben Punkt meiner Wegstrecke.

Eine Zeitlang nahm ich ihn nur aus den Augenwinkeln flüchtig wahr, registrierte ihn, nach dem Motto – ach, da ist der wieder – vermisste ihn jedoch, wenn ich ihn nicht sah.

Einmal blickte ich exakt in seine Richtung und er lächelte mich fast unmerklich an, ich kann nicht erklären, was in seinem Blick war – vielleicht ein Erkennen, ein Anzeigen, dass auch er wusste, dass es ich bin, die sich wie er jeden Tag zur gleichen Zeit auf dieser Strecke befand. Es war weit entfernt von einem Augenflirt zwischen Mann und Frau, es war kein ‚Hallo‘, nicht mal ein Begrüßen, aber es war – ein ganz leises Wahrnehmen.

Gleich am Tag danach reckte er keck zum Gruß seinen Wanderstock, den er stets bei sich trug, als wir uns trafen – ich im PKW, er wandernd auf dem Weg. Ich nickte ihm kurz zu – es war vielleicht nur ein Bruchteil einer Sekunde – und schon waren wir wieder aneinander vorbei.
Am nächsten Tag aber hob er beide Arme und lachte, ich nahm spontan meinen Arm vom Lenkrad und winkte ihm ebenfalls lachend zu – wir kannten uns nicht, aber diese gemeinsame Strecke mit unterschiedlichen Zielen zur gleichen Zeit verband uns.

Lange sah ich ihn nicht, warum auch immer. Ich machte mir keine allzu großen Gedanken über ihn, mein Alltag war zu schnell, zu stressig, manchmal nahm ich auch eine andere Fahrtstrecke, hatte ganz andere Dienstzeiten und doch – fragte ich mich, ob es ihn überhaupt noch gab, diesen seltsamen Wanderer, und ob er seine Runden immer noch regelmäßig lief.

Heute morgen sah ich ihn endlich nach langer Zeit wieder, auf meinem Weg zum Dienst, zu einer anderen Zeit als sonst – es war halb acht in der Früh.
Mich hat er nicht bemerkt.
Aber ich ihn schon.

Und irgendwie war ich erleichtert, ihn auf seiner gewohnten Strecke zu sehen.

  • Lese Deine Texte immer wieder gern, solche oder ähnliche Begegnungen kenne ich auch.

    Lieben GRuß
    Astrid

  • Es sind gerade diese kleinen Gesten, ein Verstehen zwischen zwei sich unbekannten Menschen, die dem Alltag einen glitzernden Moment verleihen.
    Schön erzählt.

  • Schön, diesen kleinen Zwischenmenschlichkeiten durch einen Text einmal Beachtung zu verleihen. Jeder kennt solche „aus dem Augenwinkel“-Bekanntschaften. Und es ist verblüffend, wie leicht man sich daran erinnern kann, wenn man – wie durch diese Geschichte – angestupst wird. Diese Begegnungen wirken wohl viel tiefer als es einem scheint.

  • Diese Begegnungen „berühren“. Es gibt sie, die Ebene, bei der es keiner Hand bedarf um eine Verbindung zu spüren. Meist sind sie oberflächlich, dann wieder so markant, dass sich der Mensch sie speichert, als ob er es einmal wieder spüren möchte weil es dazu gehört, weil auch das zum Leben gehört.

    Grüße

    buckj

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