Die Kante

Es sind nur wenige Meter asphaltierter Fläche, von Kaugummiflecken vernarbte Meter. Die Enden einer Lakritzschnecke, das Ende eines Reißverschlusses. Zum Schutz der Reisenden markiert eine Linie den Sicherheitsbereich. Es gibt lauschigere Orte als die Bahnsteigkante. Leisere und ehrlichere. Sind sie nicht alle im gleichen Muster gestrickt? Hat nicht jeder Bahnhof das, was jeder hat? Schwebt nicht über allem der Dunst von Abschiedsangst und Ankunftsfreude, von Wiedersehen und auf Wiedersehen?

Ansagen aus gehämmertem Blech künden von Verspätungen. Ein Selbstmord auf der Strecke wird als vorübergehende Betriebsstörung vermittelt, und gleich gegenüber: „Vorsicht an der Bahnsteigkante, der Zug fährt sofort ab!“ klingt wie eine Drohung. Durch die milchig gewordenen Scheiben zwängen sich diffuse Leuchtreklamfarben, denen tagsüber niemand ein Auge schenkt.

Wer die Eile sehen will, der kommt hier her, wer die Langeweile nicht fürchtet auch. Es gibt Beobachter, denen sich der unrasierte Obdachlose wohnhaft zwischen Dortmund und Berlin ebenso als Bild einbrennt, wie die stark geschminkte Frau mit dem falschen Pelz, das Kind, das auf die soeben eingetroffene Oma zu rennt und schreit: „OoooooMaaa!“ während der Opa dazu lächelt.

Hinter den Scheiben der nur kurz haltenden Züge döst es, oder schaut den Aus- und Zusteigenden zu, wie sie mit ihrer Habe zurecht kommen, wenn sie sie wie unbeholfene Ameisen bugsieren. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass nicht einer hier ist, der diesen Ort liebt, der dieser Kante mehr Wert gibt als sie hat. Und da, kaum zu sehen, doch wahr, eine gelb blühende Blume im Schotter. Vom Gift nicht erreicht, das man zwischen die Steine sprüht, um so etwas wie Sauberkeit zu zaubern.

An den Treppenstufen nach unten hasten die nach oben, denen die Zeit fort lief und soeben der Zug. In ihren Augen Erstaunen, auch Ärger über das Missgeschick. Eine Taube watschelt gelangweilt umher. Die Stimme der Durchsage hat bald Feierabend. Man hört, dass sie genervt ist. Manchmal dringt ein Strahl des Sonnenlichts durch zersprungenes Gitterglas, weht ein Wind durch den Tunnel des Vorübergehens und trifft auf die Wimperntusche, die wie auf der Flucht die Wangen herab rinnt. „Es wird nicht lang“ höre ich, „nur ein Jahr!“ Und sie glaubt nicht an ein Jahr, und er glaubt noch an Wunder.

Es ist November, doch interessiert es die Bahnsteigkante? Sie ist neutral und trennt. Sie trennt die Winkenden von denen, die ein Tuch aus der geöffneten Scheibe halten, wenn es die noch gibt. Bis der Zug in jene Kurve einbiegt, die unweigerlich kommt, wenn die Unsichtbarkeit beginnt. Ähnlich der Spur eines Flugzeugs, wenn man lange genug wartet, dass es Zeichen malt am Himmel, bis sie verwischen mit dem Wind.

Ich gehe zurück. Nehme die Treppenstufen und laufe dem Strom entgegen, der aus Menschen besteht aus einer Quelle…

fridas Lesetipp: Tess Gerritsen: Noch eine Lady “in crime”

mit der unsympathischsten Ermittlerin, die die Krimi-Literatur zu bieten hat.

Nein, eigentlich wollte ich Tess Gerritsen gar nicht weiterlesen. Eine derart unsympathische Detective war mir bisher noch nie unterkommen. Jane Rizzoli, Detective in der Mord-Division des Bostoner P.D, schrecklich stur, laut, selbstgerecht, völlig unsensibel, immer in Kampf- und Abwehrhaltung, auch wenn ihr niemand was will – die ist kaum auszuhalten. Da konnte mich auch das andere Teil des Ermittler-Duos, die Rechtsmedizinerin Dr. Maura Isles – leise und kühl, aber mit Respekt vor den Toten – fast nicht vom Gegenteil überzeugen.

Aber im Gegensatz zu einem Blender wie Jussi Adler Olsen, der nur eine blasse und überschätzte Kopie seiner skandinavischen Kollegen und Kolleginnen „in crime“ ist, gab ich Ms Gerritsen und damit auch Ms Rizzoli doch noch eine zweite Chance. Denn obwohl „Blutmale“ ein eher schwächerer Roman in der Reihe um Detective Jane Rizzoli und Dr. Maura Isles ist, war ich in diese Reihe mittendrin eingestiegen und die Figuren hatten ja bereits eine gewisse Entwicklung hinter sich. Also, noch einmal alles auf Anfang und gestartet mit „Die Chirurgin“, dem allersten Fall.

Obwohl Maura Isles hier noch nicht zum Einsatz kommt, weisen bereits „Die Chirurgin“ und der nachfolgende „Der Meister“ – der direkt an den Fall in „Die Chirurgin“ anschließt – schon die Richtung der Reise von Tess Gerritsens Krimis.Ihre Spezialität sind die Psychos und Soziopathen, Serienmörder allesamt, die mit kühlem Kalkül ihre Opfer abschlachten und denen nur mit hohem Blutzoll am Ende der Garaus gemacht werden kann. Dabei geraten Jane Rizzoli und Maura Isles selbst immer wieder in den Fokus und in Lebensgefahr, falsche Fährten und deren unerwartete Auflösung inklusive.

Die Opfer sind oft Frauen, aber nicht nur. Die Motivationen reichen von schlichtem Gestört sein bis hin zu Geldbeschaffung durch Mord oder Mord zur Verdeckung von anderen Straftaten. Die Opfer sind nicht nur allesamt passive Opfer, sondern einzelne lernen, sich unter extremsten Bedingungen zur Wehr zu setzen und zu überleben.

Eine Ausnahme vom Serienmörder-Sujet bildet „Scheintot“. Hier geht es um Frauenhandel und Zwangsprostitution, deren Nutznießer in den höchsten politischen und polizeilichen Kreisen sitzen. Gerritsen, die als Autorin ansonsten eher Abstand hält und deren Opfer durchaus nicht immer die sympathischsten sind, zeigt hier eine ungewohnte Anteilnahme. Dieses Thema scheint ihr auch sonst am Herzen zu liegen, und es scheint ihre Wut über die herrschenden Verhältnisse durch.

Ihr Ermittler-Duo ist Feuer und Wasser in einem. Wie gesagt, Jane Rizzoli für mich ist die unsympathischste polizeiliche Ermittlerin aller Zeiten. Und Maura Isles erinnert mich zusehends an die Figur der Rechtsmedizinerin Dr. Sam Ryan aus der englischen TV-Serie „Gerichtsmedizinerin Dr. Samatha Ryan“, die leider vor einigen Jahren eingestellt wurde (der eine oder andere unter Ihnen erinnert sich vielleicht noch an diese herausragende TV-Serie, die seinerzeit von RTL gezeigt wurde).

Aber Gerritsen entwickelt ihre Figuren in ihrer Reihe weiter. Rizzoli bekommt einen Ehemann – einen FBI-Agenten – und eine Tochter (sie ermittelt zwischendrin hochschwanger weiter) – was ihrer Schroffheit und ihrer Unsensibilität aber keinen Abbruch tut. Sie leidet darunter, dass sie als Mädchen unter zwei Brüdern in der Familie immer zurückgesetzt wurde und sich durchbeißen musste – was einiges erklärt, aber nicht alles entschuldigt.

Isles muss nicht nur Schockierendes über ihre Herkunft und Familie erfahren, sondern verliebt sich immer in die falschen Männer, letzter Stand der Dinge ist ein ihr ebenfalls zugetaner Priester, den sie im Rahmen einer ihrer Fälle kennenlernt.

Übrigens, Liebesszenen schreiben ist Tess Gerritsens Sache ganz und gar nicht. Dafür hat sie eindeutig kein Talent. Und so lesen sich solche Szenen – die zum Glück nicht oft vorkommen – wie aus den billigen Heftchen-Romanen entnommen. Man versäumt nichts, wenn man diese Szenen schnell überliest.

Insgesamt ist das Setting zwar nicht neu, aber gut strukturiert und in sich stimmig, spannend erzählt und flüssig zu lesen. Da Tess Gerritsen von Haus aus Medizinerin ist und auch einige Jahre als Ärztin gearbeitet hat, sind vor allem die pathologischen Details zwar oft grausig zu lesen, aber glaubwürdig aufbereitet. Und wir Krimi-Fans sind ja aus der Pathologie auch schon einiges gewöhnt.

Gerritsens Plots sind nicht so komplex und hintergründig wie die von Val McDermid – nach wie vor meine Lieblings-Krimiautorin – und ihre Sprache ist auch nicht so literarisch anspruchsvoll (ich habe einen Roman auf Englisch gelesen und das ging ziemlich leicht), aber unter den angelsächsischen Kriminal-Autoren und –autorinnen hat sie sich zu Recht in den letzten Jahren einen der vorderen Plätze erkämpft, auch wenn Jane Rizzoli nicht mein Herz erreichen kann.

Tess Gerritsen hat neben der Reihe um Jane Rizzoli und Maura Isles noch einige Einzel-Romane geschrieben, von denen ich aber bisher nur „Leichenraub“ gelesen habe. In diesem Roman verbindet sie geschickt Gegenwart und Vergangenheit, führt die Leser zurück in die Welt der klinischen Medizin im Jahr 1830 in Boston. Vor dem Hintergrund von Leichenraub für die Anatomie und dem massenhaften Sterben im Kindbett, verursacht durch das unhygienische Verhalten der Ärzte, erzählt sie eine spannende Geschichte um rätselhafte Morde, die an „Jack the Ripper“ erinnern und sich doch am Ende als völlig anders motiviert enttarnen.

Zum Weiterlesen:

(1) Die Jane Rizzoli/Maura-Isles-Romane:

„Die Chirurgin“, dt. 2004 („The Surgeon“, 2001)
“Der Meister”, dt. 2005 (“The Apprentice”, 2002)
“Todsünde”, dt. 2006 (“The Sinner”, 2003)
„Schwesternmord“, dt. 2007 („Body Double“, 2004)
„Scheintot“, dt. 2007 („Vanish“, 2005)
„Blutmale“, dt. 2008 („The Mephisto Club“, 2006)”
“Grabkammer”, dt. 2009 (“The Keepsake”, 2008)
“Totengrund”, dt. 2010“ („Ice Cold“, 2010)

(2) Als Einzel-Roman:

„Leichenraub“, dt. 2006 („The Bone Garden“, 2007)

Deutschsprachige website von Tess Gerritsen: www.tess-gerritsen.de

© frida 2011

fridas Lesetipp: Val McDermid – Eine Erfinderin des Todes

ist meine ganz persönliche „Queen of Crime”.

Val McDermid, Schottin, Jahrgang 1955, zählt mittlerweile zu den profiliertesten zeitgenössischen Autorinnen im Krimi-Genre. Nach vielen anderen Auszeichnungen in den vergangenen Jahren erhielt sie in diesem Jahr mit dem „Cartier Diamond Dagger Lifetime Achievement Award” die höchste Auszeichnung, die man in der britischen Krimi-Szene für ein bisheriges Lebenswerk zu vergeben hat.

Val McDermid kreuzte zum ersten Mal 1990 meinen Lese-Weg. Der „Argument”-Verlag – bis dato eher bekannt für sein Programm politisch links orientierter Sachbücher und Literatur – legte ab Ende der 80iger Jahre unter der Marke „ariadne” ein eigenes Krimi-Programm auf. Das besondere am „ariadne”-Programm war, dass es sich ausschließlich um von Frauen geschriebene Krimi-Literatur handelte, in der ausschließlich Frauen die Hauptrollen spielten. Das war ein Novum zu jener Zeit.

Dass viele von diesen weiblichen Hauptfiguren gleichzeitig – wie ihre Erschafferinnen auch – bekennende Lesben waren, war ebenfalls ein Novum und ein Tabu gleichzeitig. Außer der „ariadne”-Reihe fällt mir kein Verlag ein, der zu jener Zeit „solche” Kriminalromane verlegt hätte.

Dass auch Val McDermid irgendwann in diese Reihe aufgenommen würde, war eigentlich keine Frage. Und so erschien bei „ariadne” 1990 Lindsey Gordon, kritische Boulevard-Reporterin mit schottischem Hintergrund, lesbisch und trinkfest, mit ihrem ersten Fall („Die Reportage”) – und das war gleichzeitig auch McDermids erstes Buch – auf der Bildfläche. Ich war sofort von Lindsey Gordon angetan. Obwohl mir heute die Lindsey-Gordon-Reihe (es sind insgesamt 7 Romane mit dieser Hauptfigur erschienen) wie eine McDermidsche Fingerübung erscheint, war bereits schon alles im Kern vorhanden, was das McDermidsche Krimi-Universum ausmacht: Wohldurchdachte und nie konstruiert wirkende Plots, glaubwürdige Figuren, Spannung, die bis zum Ende hält, überraschende Handlungstwists, die sich dennoch harmonisch in den Plot einfügen.

Nach Lindsey Gordon gingen einige Lese-Jahre ohne Val McDermid ins Land. Nein, nicht tatsächlich, denn sie hatte weiter fleißig veröffentlicht, eine zweite Reihe um eine Privatdektivin namens Kate Brannigan aufgelegt, und bereits ihre aktuelle Reihe um Tony Hill und Carol Jordan gestartet. Da Kate Brannigan jedoch nicht so mein Fall war und mein Lesehunger mittlerweile viele, viele andere Autorinnen verschlungen hatte, hatte ich Val McDermids Schaffen ein wenig aus den Augen verloren. Bis ich „Die Erfinder des Todes” („Killing the Shadows”) in die Hand und zu lesen bekam.

In „Die Erfinder des Todes” geht ein ganz besonderer Serienmörder um, und zwar einer, der Kriminalschriftsteller umbringt, und zwar nach der gleichen Methode, wie in deren Büchern beschrieben. Eine Profilerin, die gleichzeitig auf mehreren Verbrechensserien-Hochzeiten tanzt und mit einem ebenfalls bedrohten Krimiautor liiert ist, schafft es, am Ende den Mörder ganz allein zur Strecke zu bringen. Ich dachte, ich hätte damit schon alle möglichen perfiden Tötungsarten kennengelernt und den ultimativen Blick in ein psychopathisches Hirn getan.

Ich sollte mich täuschen.

Die Reihe um Dr. Tony Hill und DCI Carol Jordan

Mit der Reihe um Dr. Tony Hill und DCI Carol Jordan, deren erster Band 1997 unter dem Titel „Das Lied der Sirenen” („The Mermaids Singing, engl. 1995) auf den deutschen Markt kam, betritt auch der versierteste Krimileser eindeutig die tief dunkle Seite des Krimi-Mondes. Mittlerweile ist diese Reihe auf 7 Bände gewachsen, deren bisher letzter im Dezember auf dem deutschen Büchermarkt erscheinen wird.

Im Mittelpunkt stehen der klinische Psychologe und Profiler Dr. Tony Hill und Detective Chief Inspector Carol Jordan, die gemeinsam Serienmörder zur Strecke bringen. Es sind überaus schreckliche Verbrechen – manchmal habe ich mich schon gefragt, ob die Autorin nicht selbst davon Albträume hat – viel schrecklicher noch ist jedoch der exakte Einblick in die gestörte Psyche jener Sozio-und Psychopathen, die diese Taten aufs genaueste planen und mit der Präzision eines Uhrwerks durchführen. Sie sind zutiefst davon überzeugt, dass sie ein Recht auf das haben, was sie anderen antun, und sie sind intelligent genug, sich hinter der Maske des Normalen perfekt zu tarnen.

In Tony Hill haben diese Menschen einen ihnen gewachsenen Gegenspieler. Er besitzt die Fähigkeit, sich in ihr für uns verqueres, für sie jedoch völlig logisches Denken einzuklinken. Das führt natürlich nicht sofort zum Erfolg und ist auch das ein oder andere Mal mit Fehlern behaftet, die tödlich hätten enden können, aber am Ende ist das Profil, was er von ihnen erstellt, immer in sich stimmig.

Ihm auf der Polizeiseite gleichwertig zur Seite gestellt ist Carol Jordan, die sich im Polizeidienst gegen die versammelte Männlichkeit vom Detective Inspector zum Detective Chief Inspector mit eigener Spezialisten-Einheit hochkämpft. Sie setzt Tony Hills Profiling in die praktische Polizeiarbeit um, nicht ohne allerdings auch ihre ganz eigenen Ideen und Spuren zu verfolgen.

Was Val McDermids Reihe für mich so besonders macht, ist, dass jeder Roman aus dieser Reihe seine eigene Handschrift hat und dass alle diejenigen Personen, die sozusagen zum „Stammpersonal” gehören, eine individuelle Geschichte haben und sich weiterentwickeln.

Hauptschauplatz ist die fiktive Großstadt Bradfield im Norden Großbritanniens, mit allen Problemen, mit der eine Großstadt im wirtschaftlichen Niedergang zu kämpfen hat. Da aber sowohl Tony Hill als auch Carol Jordan einige Male ihre Arbeitsplätze wechseln (müssen), spielt „Schlussblende” im eher ländlichen Yorkshire, und „Ein kalter Strom” gleich ganz außerhalb, und zwar in Berlin -dort ist Carol Jordan undercover im Organisierten Verbrechen unterwegs – und auf dem Rhein zwischen Deutschland und den Niederlanden, dort ist der Serienmörder unterwegs, dem Tony Hill auf den Spuren ist.

Großbritannien ist eine multiethnische Gesellschaft mit vielen verschiedenen sozialen Lebensstilen.Täter und Opfer können schwarz, weiß oder asiatisch sein, sie können jung oder alt sein, sie können männlich oder weiblich sein, sie können hetero-oder homosexuell sein, sie können privilegiert oder unterprivilegiert sein.

Und das trifft gleichermaßen auch auf die Polizisten zu. Die Polizei ist im schlimmsten Fall korrupt, frauenfeindlich, homophob, rassistisch und völlig ignorant – und im besten Fall genau das Gegenteil davon. Carol Jordans spätere Spezialeinheit ist ein Spiegelbild dieser multiethnischen und multisozialen Gesellschaft im besten Sinne. In dieser arbeiten Weiße, Schwarze, Asiaten, Männer und Frauen, Hetero-und Homosexuelle relativ problemlos zusammen, weil Jordan selbst über jegliche Vorurteile erhaben ist.

Auch Polizisten und Polizistinnen können zu Opfern werden. Bei Val McDermid sind auch Polizisten und Polizistinnen sterblich bzw. sie geraten an den Rand des Todes in der Hand des Täters, oder aber werden wie Carol Jordan (in „Ein kalter Strom”) so erheblich in ihrer persönlichen Integrität beschädigt, dass sie in den nachfolgenden Romanen beständig mit den psychischen Folgen zu kämpfen hat.

Und auch Tony Hill hat seine ganz eigene persönliche Geschichte. Zwischen ihm und Carol Jordan spielt sich eine mehr oder minder unausgesprochene Liebesgeschichte ab, die beide in eine Freundschaft zu sublimieren zu versuchen. Denn Tony Hill ist aufgrund seines familiären Hintergrundes, über den wir Stück für Stück immer etwas mehr erfahren, zunächst unfähig, eine feste Beziehung zu einer Frau einzugehen. Im bisher letzten auf Deutsch erschienenen Band der Reihe, „Vatermord”, wird der Knoten in seiner Vergangenheit endgültig aufgelöst und es schien alles offen – und auch möglich.

„The Retribution” – der vorerst letzte Band der Reihe und bisher nur auf Englisch erhältlich – stellt dies jedoch wieder in Frage. In „The Retribution” wird Jacko Vance, der Killer aus „Schlussblende” reaktiviert. Er nimmt schreckliche Rache – und zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen Tony und Carol. Wir werden abwarten müssen, wie die Autorin beide Figuren vor diesem Hintergrund weiterentwickelt.

Im übrigen gehört Val McDermid nicht zu den Krimi-Autoren, bei denen man den Verdacht nicht los wird, dass sie vor lauter Faszination, welche schrecklichen Verbrechen sie kreieren können, eine heimliche Komplizenschaft mit ihrem Täter eingehen. Ganz im Gegenteil, ihr Mitgefühl gilt den Opfern, die genauso wie der Täter ausführlich vorgestellt werden, mit einem Gesicht und einer Geschichte, die ihnen Individualität und Würde verleiht und sie nicht im Bewusstsein des Lesers nur als blutiges Bündel Mensch zurücklässt.

Aus Motiven der Reihe um Tony Hill und Carol Jordan entstand die ITV-Fernsehserie „Wire in the Blood” – diese lief bei uns im ZDF-Sonntagabendkrimi unter dem Titel „Die Methode Hill” – mit 6 Staffeln. Leider wurde die Serie 2008 aus Kostengründen eingestellt.

Ein kurzer Ausblick auf die Einzelwerke

Zwischen den Tony Hill/Carol Jordan-Romanen, die in Abständen von 2-3 Jahren erscheinen, sind bisher sechs – in Deutschland fünf – Romane erschienen, die inhaltlich für sich allein stehen, was Val McDermid nicht daran hindert, das Personal (Polizisten, Gerichtsmediziner) schon einmal übergreifend einzusetzen. 1999 erschien mit „A Place of Execution” („Ein Ort für die Ewigkeit”, dt. 2000) der erste in sich abgeschlossene Roman in dieser losen Reihe von Einzelwerken.

Es geht auch in den abgeschlossenen Romanen um Mord, jedoch – bis auf „Die Erfinder des Todes”- nicht um den Serientäter der Hillschen Prägung, sondern wesentlich um Mord aus Rache oder aus Habgier oder aus Vertuschung eines anderen Verbrechens. Diesem Täter kommt man weniger mit Profiling bei, sondern viel mehr mit traditioneller Polizeiarbeit. Das heißt jedoch nicht, dass dies ein weniger spannendes Metier wäre als das Profiling.

Ganz im Gegenteil: Alle Romane halten eine wunderbare Balance zwischen dem, was die Autorin dem Leser offensichtlich macht und dem, was sich zwischen den Zeilen abspielt und was der Leser nur bei genauestem Hinlesen erkennt – oder auch nicht. Vergangenheit und Gegenwart werden so geschickt ineinander verknüpft, dass man sehr aufpassen muss, um die Zeitebenen und die in ihren agierenden Personen richtig auseinander zu halten. Val McDermid schafft es auch in ihren Einzelwerken, eine besondere Atmosphäre in einer Mischung aus Schuld und Unschuld zu erschaffen.

Und hiermit komme ich zum Ende meines etwas länger geratenen Lesetipps. Ich habe Val McDermid übrigens zweimal bei einer Lesung erlebt. Sie ist eine außerordentlich bodenständige, humorvolle und auch charismatische Frau, die schnell ihre Zuhörerschaft in den Bann zu ziehen vermag.

Ich würde mich freuen, wenn der eine oder andere von Ihnen nun auf den Lese-Geschmack gekommen ist. Sie werden es nicht bereuen.

Zum Weiterlesen:

Tony Hill/Carol Jordan:

– „Das Lied der Sirenen”,dt. 1997 („The Mermaids Singing”, engl. 1995)
– „Schlussblende”, dt. 1999 („Wire in the Blood”, engl. 1997)
– „Ein kalter Strom”, dt. 2003 („The Last Temptation”, engl. 2002)
– „Tödliche Worte”, dt. 2005, („ TheTorment of the Others”, engl. 2004)
– „Schleichendes Gift”, dt. 2008 („Beneath the Bleeding”, engl. 2007)
– „Vatermord”, dt. 2010 („Fever of the Bone”, engl. 2009)

Einzelwerke:

– „Ein Ort für die Ewigkeit”, dt. 2000 („A Place of Execution”, engl. 1999)
– „Die Erfinder des Todes”, dt. 2001 („Killing the Shadows”, engl. 2000)
– „Echo einer Winternacht”, dt. 2004 („The Distand Echo”, engl. 2003)
– „Das Moor des Vergessens”, dt. 2006 („The Grave Tattoo”, engl. 2006)
– „Nacht unter Tag”, dt. 2009 („A Darker Domain”, engl. 2008)
– „Trick of the Dark”, engl. 2010, erscheint in Deutsch als „Alle Rache will Ewigkeit” Ende Dezember 2011

Einzelne Werke liegen auch als Hörbuch oder Hörspiel vor.

Homepage von Val McDermid: www.valmcdermid.com

© frida 2011

Abgeklärtes

Frauen sind in meinem Alter
nur mehr fern geseh’ne Falter,
denn ich steh’ dank Reifegraden
in nichts mehr auf Eskapaden.
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Der Action-Film: „Ra.One“ – Shah Rukh Khan lässt es krachen…

In seinem neuesten Film „Ra.One“ lässt es Shah Rukh Khan ordentlich krachen. Ein Bollywood-Filmtipp von frida.

Das indische Kino kennt zwar jede Menge Helden, aber keine, die Comics oder Videospielen entsprungen sind oder auf ihnen beruhen. Nun, Superstar Shah Rukh Khan hat sich davon nicht abhalten lassen. Ganz im Gegenteil: Mit seinem neuesten Film „Ra.One“ – der hier in Düsseldorf an zwei Tagen in der OmeU-Fassung gezeigt wurde– legt er ein Werk vor, dessen beider Helden die Stars in einem Videospiel sind.

Mit seiner Produktionsfirma „Red Chillies“ ist Shah Rukh Khan als bekennender Technik-Fan mit neuester Digital-Technik auch im VFX-Segment tätig. Was lag also näher, nicht nur die Hauptrolle, sondern gleich auch die Produktion zu übernehmen. Nur die Regie überließ er Anubhav Sinha, der bereits eine Regie-Karriere im Fernsehen machte.

Und so präsentiert sich „Ra.One“ als veritables Action-Kino, ein lautes, buntes und vergnügliches Spektakel, in dem jedoch kaum Blut zu sehen ist, keine Menschenteile durch die Luft fliegen, familientaugliche Action sozusagen, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass Shah Rukh Khan diesen Film auch seinen Kindern, insbesondere seinem Sohn, schenken wollte.

„Ra.One“ ist eigentlich ein technisches Kürzel, lautsprachlich jedoch auch ein Synonym für „Ravaan“, dem großen bösen Dämon aus dem „Ramayana“, den in Indien jedes Kind kennt. Und darum geht es in dem Videospiel „Ra.One“: Im Mittelpunkt steht nicht der gute Held, sondern der Anti-Held: Ra.One, das absolut Böse, bei dem nicht sicher ist, ob der Gegenspieler ihn bezwingen kann.

Ersonnen wurde dieses Spiel von dem tolpatschigen, etwas naiven, aber trotzdem liebenswerten Spiele-Entwickler Shekhar (mit Lockenfrisur: Shah Rukh Khan), der mit Frau Sonia (Kareena Kapoor) und Sohn Prateek (Verma) in London lebt. Sohn Prateek ist im Gegensatz zu seinem Vater ein ganz ausgeschlafener, der seinen Vater erst auf die Idee gebracht hat, ein Spiel mit einem Anti-Helden zu erschaffen.

Natürlich gibt es auch einen guten Helden in diesem Spiel – G.One. Beide Figuren werden über eine spezielle Steuereinheit – HART wie „Heart“ (Herz) gesprochen – gesteuert. Nur wenn das HART zerstört ist, ist auch das Böse endgültig zerstört.

Als Prateek nach der offiziellen Präsentation das Spiel aktiviert und eine Runde spielt, geht etwas schief, was sich schon vorher angedeutet hat. Ra.One ist so mächtig, dass er es vermag, sich mit der Strahlung aus den Servern aufzuladen und aus dem Spiel in die reale Welt auszubrechen. Ra.One ist außerdem in der Lage, einem Gestaltwandler gleich, jede beliebige menschliche Gestalt anzunehmen. Sein Ziel ist es, seinen Spielgegner „Luzifer“ – unter diesem Nick spielt Prateek – zu töten.

Während Ra.One in der Gestalt eines Kollegen von Shekhar Jagd macht, kommt Shekhar bei dem Versuch, seine Familie zu beschützen, um. Die Katastrophe ist perfekt. Scheinbar kann niemand Ra.One stoppen. Aber da gibt es ja noch G.One, der nun in das reale Leben aktiviert wird. G.One – auch Shah Rukh Khan, diesmal mit flottem Haarschnitt und stahlblauen Augen, als fleischgewordene Steuereinheit mit gutem Herz – schafft es tatsächlich, Ra.One zu stoppen.

Natürlich ist Ra.One nicht tot, sonst wäre der Film jetzt schon zu Ende. Während Sonia versucht, in Indien wieder auf die Beine zu kommen, mit dem etwas nervigen G.One im Schlepptau, ist R.One (jetzt Arjun Rampal) wieder auferstanden und hat sich schon längst an die Fersen der drei geheftet.

Es kommt zum finalen ShowDown, allerdings im Videospiel selbst, auf Ebene Drei, der höchsten Spielebene. Prateek und G.One gegen Ra.One. Mit einer List, die Shekhar in G.One eingebaut hat, gelingt es den beiden, Ra.One endgültig zu zerstören. Dabei geht allerdings auch die Steuereinheit von G.One kaputt. Aber Prateek wäre nicht der technische Tüftler auf den Spuren seines Vaters, wenn es ihm am Ende nicht gelänge, G.One wieder Leben einzuhauchen…

Diese sehr einfach gestrickte Story wird in zweieinhalb Stunden so temporeich, unterhaltsam und sympathisch erzählt, dass man gar nicht merkt, wie die Zeit verfliegt. Regisseur Sinha hat sich dabei auch bei westlichen Vorbildern bedient, hier eine Prise „Speed“, dort ein wenig „Highlander“ und natürlich „Matrix“, alles auf dem neuesten Stand der VFX-Technik und in einem typisch indischen Film-Masala-Mix angerichtet.

Endlich gibt es mal wieder etwas ausgedehntere Song-and-Dance-Szenen, auf die man – leider – im aktuellen Hindi-Film zusehends verzichten muss. Die Musik (Vishal-Shekhar) geht ins Ohr und bleibt auch da. Shah Rukh und Kareena Kapoor hatten schon immer eine gute Chemie auf der Leinwand und auch hier funktioniert das Zusammenspiel als Shekhar/G.One und Sonia ausgesprochen gut. Auch der Kinderdarsteller des Prateek ist nicht so nervig oder überdreht wie es oft Kinderdarsteller in indischen Filmen sein können.

Arjun Rampal als superböser Ra.One erinnert an seine Rolle des Schurken in „Om Shanti Om“, nur noch verhundertfach. Die Spielfreude dominiert überhaupt allgemein und man merkt allen Beteiligten an, dass sie sich nicht allzu ernst und wichtig nehmen. In Kurz- und Kürzest-Szenen liefern Stars wie Priyanka Chopra, Sanjay Dutt oder Rajneekanth (der Superhero des südindischen Films) vergnügliche Cameos ab. Im Abspann sieht man, dass viele Action-Szenen von den Schauspielern selbst gemeistert wurden und dass man bei den Dreharbeiten offensichtlich viel Spaß hatte.

Alles in allem ist „Ra.One“ sehr gut gemachte Action-Unterhaltung, die sich nicht hinter westlichen Filmen des Genres verstecken muss, natürlich auch für Shah Rukh-Fans, die zu später Kino-Stunde gut vertreten waren, sondern auch für allen anderen.

Von „Ra.One“ gibt es auch eine 3D-Version und das Videospiel „Ra.One“ (auf Playstation). Gemäß den Umsatzzahlen seit Oktober d.J. wird der Film in Indien als „Hit“, in Übersee sogar als „Superhit“ gewertet.

Und wer Shah Rukh Khan vielleicht einmal live erleben möchte, sollte am 19.11.2011 nach Düsseldorf kommen. Dort wird King Khan bei der jährlichen Unesco-Gala im Maritim-Hotel als Botschafter für die Kinder Indiens auftreten. Also entweder selbst eine (teure) Eintrittskarte kaufen und mindestens 300 Euro als Spende mitbringen, oder vor dem Maritim-Hotel ausharren.

„Ra.One“, Indien 2011, Regie: Anubhav Sinha, ca. 145 Min

http://www.raonemovie.com/

© frida 2011

Lümmelwundertüten

Ein Lümmel mit nur Un im Sinn – eine Rezension

Cover: Ein Lümmel mit viel Un im Sinn

Ich kenne den Autor dieses Schelmengedichtbandes seit langem und bin auch mit ihm befreundet. In einem kleinen, aber feinen Schreibforum (höhö, dreimal darf geraten werden) stieß ich erstmals auf Andreas Gers‘ versponnen-ironische Verse und war sofort begeistert.
Ich bin ferner nicht unbeteiligt daran gewesen, dass sich ein Verlag für den nicht gerade gewöhnlichen Stoff fand.
Auch habe ich den Klappentext des Buches verfasst.
Darum erwarte bitte keiner, dass ich bei dieser Rezension neutral und journalistisch objektiv bin. Diese Buchbesprechung ist eine sehr persönliche Empfehlung.
„Ein Lümmel mit viel Un im Sinn“ ist ein Sammelband ulkiger, höchst amüsanter, spitzfindiger, warmherziger, frecher und verschrobener Gedichte. Man rauscht beim Lesen förmlich durch das Blattwerk. Obendrein ist das Buch wunderhübsch illustriert.

Einer meiner großen Favoriten ist „Der Schlupp“:

Es maugelt. Aus dem grusen Lohr
schorrt flax ein schinker Schlupp hervor.
Er mickert zippig, grannt, und dann
kinkt er sein heisches Lickern an.
Doch Weh! Im dumpen Lohrenlicht
ertuppt der Schlupp die Kraale nicht!
Ein schreifes Frickern – und im Schloff
Vergurrt der Schlupp. Es maugelt troff.

Wem das jetzt doch etwas zu sprachklamaukig war, dem kann mit etwas Tiefsinnigem geholfen werden: „Zu Grabe getragen“.

Im Regen saß ein Hättichdoch,
zusammengesunken.
Ein Augenblick, der gewunken
hatte: „Jetzt oder nie!“, verkroch
sich irgendwo in den Ritzen.
Das Hättichdoch blieb sitzen.

Bald schlenderte ein Irgendwann
durchs triste Gepfütze.
Die Schulter als Stütze
bot es dem Hättichdoch an.

Die beiden sind Freunde geworden,
sie schwelgen in Zukunftsmusik,
verliehen sich Tapferkeitsorden
und übten an allem Kritik.

Dass sie zu Grabe
sich trugen, habe
ich erst nach Jahren
erfahren.

Ein Lümmel mit nur Un im Sinn
Andreas Gers (Autor)
Verlag: cenarius Verlag Hagen
ISBN: 978-3940680365

cenarius


http://www.andreas-gers.de/
http://netzkritzler.de/mumpitz/
http://cenarius-verlag.de/veroeffentlichungen/eva-schwarz-empfiehlt-ein-lummel-voller-un-im-sinn/

Das Musical „Kein Pardon“: Dirk Bach hat Singverbot

aber wir haben ihn noch in der Vorpremiere singen hören. Ein Abend mit „Kein Pardon“ nach Hape Kerkeling von frida.

Zugegeben: Musicals sind so gar nicht mein Ding. Und hätte ich die Wahl gehabt zwischen Teufel und Beelzebub, hätte ich mich lieber für „Dirty Dancing“ oder die „Rocky Horror Show“ entschieden. Aber: Wir hatten die Karten geschenkt bekommen und so gab es keine Wahl.

Wir besuchten eine der drei Vorpremieren, technische Generalproben sozusagen. Zwei Vorpremieren waren bereits wegen technischer Probleme abgesagt worden, und auch unsere Vorstellung stand zwischendrin unter einem nicht so günstigen Stern, da es zu einem länger anhaltenden Stillstand der Drehbühne kam.
Mit launischen Einlagen überbrückten aber Regisseur Alex Balga und Autor Thomas Hermanns („Quatsch Comedy Club“) die Zeit und das Publikum war willens und willig, sich die gute Laune nicht verderben zu lassen. Hape Kerkeling war anwesend, trat aber nicht ins Scheinwerferlicht, sicherlich zur Enttäuschung seiner Hardcore-Fans, die zahlreich erschienen waren. So zahlreich, dass diese Vorpremiere nahezu ausverkauft war.

Obwohl „Kein Pardon“ mit Hape Kerkeling beworben wird, ist nur in der Vorlage des Musicals Hape Kerkeling drin, denn „Kein Pardon“ beruht auf dem gleichnamigen Film von Kerkeling aus dem Jahr 1993 (den kannte ich allerdings auch nicht). Grob gesagt handelt es sich um eine sanfte Medien-Satire, die zeitlich irgendwo in den 80igern angesiedelt ist.

Im Mittelpunkt steht Peter Schlönzke aus Bottrop, der die Schnittchen aus dem familieneigenen Schnittchenservice ausfährt, und gleichzeitig davon träumt, eines Tages der Star der Sendung „Witzigkeit kennt keine Grenzen“ zu werden. Diese Sendung wird moderiert von Heinz Wäscher (man muss sich das jetzt alles hessisch ausgesprochen vorstellen), Ähnlichkeiten mit Heinz Schenk und seinem „Blauen Bock“ sind durchaus beabsichtigt.

Schlönzke ist ein Fernsehfreak, dessen bester Freund natürlich der Fernseher ist. Fernseh-Highlight des Monats ist „Witzigkeit kennt keine Grenzen“. Schlönzkes Mutter – die Familie ist reinster Ruhrpottadel – schafft es, ihren Sohn in ein Casting für die Sendung zu bringen. Aber Peter kann mit seiner Nummer nicht reüssieren, stattdessen lernt er den wahren Heinz Wäscher hinter der jovialen Maske des Publikumsliebling kennen – einen menschenverachtenden alternden Tyrannen, der jedem Rock hinterher steigt.

Mit Hilfe von Ulla, einer Tontechnikerin – die sich auch später noch als gute Freundin bewährt – bekommt Schlönzke einen Job als Kabelträger in der Sendung. Aber auch das geht nicht gut. Für die Live-Sendung wird er dazu verdonnert, den Hasen – das Maskottchen der Sendung – zu mimen. Aber Peter hat die Nase voll, von Wäscher herumkommandiert zu werden. Die Live-Sendung geht im Chaos unter, Wäscher wird als Moderator gefeuert, an seiner Stelle stattdessen Schlönzke engagiert, weil der ja angeblich so neu und originell ist.

Seinen kometenhaften Aufstieg bezahlt Schlönzke mit fortschreitendem Verlust seiner Menschlichkeit. Fast schon ein zweiter Heinz Wäscher geworden, ereilt ihn der tiefe Fall aus dem Quotenverlust, was das Ende seiner Karriere als Moderator von „Witzigkeit kennt keine Grenzen“ bedeutet.

Nicht aber das Ende seiner Fernsehkarriere. Peter besinnt sich auf seine menschlichen Qualitäten, versöhnt sich mit seiner Familie und zusammen mit ihr und tatkräftiger Unterstützung von Ulla, nun seiner Managerin, kreiiert er eine vollkommen neue Art der Fernsehunterhaltung – die Kochshow, deren unumstrittener Star er wird.

Das Ganze ist nett anzusehen, getanzt und gesungen wird mehr als ordentlich. Etwas holprig wird es immer dann, wenn Text gesprochen werden muss. Im Lied fallen textliche Banalitäten nämlich nicht so auf. Enrico de Pieri als Peter Schlönzke sieht wie eine verjüngte Version von Hape Kerkeling aus – eine Ähnlichkeit, die sicherlich so beabsichtigt ist – und schlägt sich gut in dieser Rolle.

Ebenso gut schlägt sich Dirk Bach als fleischgewordener fieser Heinz Wäscher („Wäääscherr“), mit Heinz-Schenk-Toupet, seinen gewaltigen Spitzbauch vor sich hertragend. Seinen Spitzenauftritt hat er allerdings als Cousine von Heinz Wäscher, in einem hautengen Glitzerfummel, wozu mir spontan die Udo-Lindenberg-Figur der Elli Pirelli eingefallen ist.

Aus dem restlichen Ensemble ragt die Figur der „Ulla“ heraus, deren Darstellerin über eine rockige Stimme verfügt. Die Melodien (Musik: Achim Hagemann) gehen irgendwie ins Ohr, gleich aber auch wieder hinaus. Bis auf das schrecklich alberne „Witzigkeit kennt keine Grenzen“ konnte ich schon auf dem Rückweg keine andere andere Melodie mehr erinnern.

Dem geneigten Publikum hat „Kein Pardon“ jedenfalls außerordentlich gut gefallen. Es gab standing ovations und anhaltenden Beifall, ein großes Zückerchen für alle Hape-Kerkeling-Fans, von denen es offensichtlich ganz viele gibt, wie ich etwas erstaunt und vielleicht auch ein wenig naiv feststellen musste. Mich hat es nicht vom Stuhl gerissen, aber ich habe mich ohnehin nur als Zaungast in einer Veranstaltung gefühlt, die nicht wirklich für mich gedacht war.

Sollte Dirk Bach bis zum 12.11. wieder singen können, findet die Welturaufführung im Capitol Theater in Düsseldorf statt.

© frida 2011

Erinnerung an die Lyrikerin Hilde Domin

eigenes Bildmaterial

Das Gedicht als Augenblick...

Erst unlängst las ich wieder in der Biografie von Hilde Domin, geborene Löwenstein und verehelichte Palm, die 1954 nach ihrer Rückkehr aus dem Exil ihr erstes Gedicht unter dem Pseudonym „Domin“ veröffentlichte. Weiterlesen »

Phantomschmerz durch Stasi-Altlasten

Das Phantom aus der Vergangenheit – eine Rezension

Cover: Das Phantom aus der Vergangenheit


Bei der Lektüre dieses Buches merkt man deutlich: Hier reicht es einem! Dem Autor nämlich!
Dietmar Ostwald hat genug von Ostalgie, Stasi-Verniedlichung und Geschichtsverklitterung. Mit diesem Roman kämpft er gegen das Vergessen und die Verharmlosung all dessen an, was die DDR im Kern ausmachte: Bespitzelung, Unfreiheit, Schikanen!

Dietmar Ostwald


Die Geschichte eines ehemaligen DDR-Bürgers, der von der Stasi aufs Ärgste drangsaliert wurde, noch vor dem Mauerfall in den Westen zog, nach der Wende ausgerechnet in der Tochter seines einstigen Peinigers eine neue Liebe findet und sich im Zuge dieser Beziehung einer schmerzvollen Vergangenheit stellen muss, mag sensibel sein, subtil ist sie allerdings nicht.
Eine unterschwellige Botschaft ist bei diesem Thema nicht Dietmar Ostwalds Sache. Wie sollte es auch? Selbst dereinst mit der Staatsmacht der DDR aneinandergerasselt, weswegen er gezwungen war, seine Heimat zu verlassen, geht es dem gebürtigen Thüringer um eine klare Aussage. Sein Buch hat keine Gute-alte-Zeit-Attitüde, hier geht es darum, wie sehr das Dasein in einem totalitären Staat traumatisieren kann.
Unbehandelt bleiben auch nicht die großen Gegensätze zwischen Ost und West. Insofern ist der Roman auch ein profunder Bericht über den deutsch-deutschen Kulturschock.
Dass etwa der stasigeschädigte, sich in der BRD schwer tuende Romanprotagonist beruflich im Westen als Märchenerzähler unterwegs ist und somit einen Job ausübt, den es laut Bundesagentur für Arbeit gar nicht gibt, spricht Breitbände. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Dietmar Ostwald auf der Mittachschicht 2011

Das Phantom aus der Vergangenheit
Dietmar Ostwald (Autor)
Verlag: Projekte-Verlag Cornelius
ISBN: 978-3862375806

Novembertod

Alter Friedhof in Berlin

Es ist so schön, im November zu sterben, Weiterlesen »