Kims Mutter (6)
„Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, was damals passiert ist. Weil ich es selbst nicht verstanden habe. Weil ich mich schämte. Weil ich glaubte, alles wäre nur meine Schuld gewesen. Und weil ich das Gefühl hatte, einen Menschen im Stich gelassen zu haben, der mich gebraucht hätte.
Elsbeth war meine beste Freundin. Sie war meine Vertraute, meine Zuhörerin. Und zugleich war sie der Teufel.
Wir arbeiteten zusammen im Krankenhaus und teilten uns ein Zimmer im Schwesternheim. Wir waren jung und oft unterwegs, gingen in der Freizeit zusammen aus, hatten Spaß miteinander. Mit Elsbeth konnte man wunderbar lachen und ausgelassen sein. Doch sie verbarg auch ein Geheimnis, das sie mir eines Tages anvertraute. Gegen Ende des Krieges, sie war 15 Jahre alt, waren die Russen in ihr Dorf einmarschiert. Ihr wisst ja sicher, was sie mit den deutschen Frauen gemacht haben, und auch Elsbeth blieb nicht verschont. Als sie davon erzählte, saß sie da wie ein Häufchen Elend und weinte bitterlich, ließ es aber nicht zu, dass ich den Arm um sie legte, um sie zu trösten. Es tat mir unendlich leid, was ihr passiert war.
Von da an kümmerte ich mich besonders um sie. Als könnte ich mit meiner freundschaftlichen Liebe alles Unheil wieder gutmachen, das ihr widerfahren war. Sie sollte wissen, dass es auch gute Menschen gab, denen man vertrauen konnte. Ich würde es ihr beweisen. Wann immer Elsbeth Hilfe brauchte, war ich da. So sind Freunde füreinander, nicht wahr?
Anfangs ging es nur darum, ihr ab und an einen kleinen Gefallen zu tun. Ihr vom Einkaufen etwas mitzubringen oder solche Sachen. Manchmal habe ich ihr auch Geld geliehen, wenn sie nicht bis zum Ende des Monats damit auskam. Eines Tages, ich wollte ihr Bett frisch beziehen, entdeckte ich unter der Matratze eine Schnapsflasche. Genau in diesem Moment kam sie ins Zimmer: „Was schnüffelst Du in meinen Sachen rum?“, herrschte sie mich an. „Ich wollte nur…“, stotterte ich. „Fass nie wieder mein Zeug an!“ Mit diesen Worten verschwand sie. Am nächsten Tag entschuldigte sie sich und sagte, die Flasche wäre ein Geschenk für ihren Vater gewesen.
Elsbeth trank immer öfter. Irgendwann machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, die Flaschen vor mir zu verstecken. „Warum tust du das?“, wollte ich wissen. „Um zu vergessen“, sagte sie. „Aber du wirst es nie vergessen und wenn du wieder nüchtern bist, ist alles schlimmer als zuvor.“ Sie hörte nicht auf mich. Wenn Elsbeth trank, vergaß sie ihren Kummer. Aber mein Kummer wurde immer größer.
Eines Tages, sie war allein auf Nachtschicht, kam sie in unser Zimmer gestürmt und weckte mich. „Ingrid, komm schnell, Du musst mir helfen!“ Ich zog mich an und eilte zur Station. Eine ältere Dame lag röchelnd in ihrem Bett. „Was ist passiert?“ „Ich glaube, ich habe ihr das falsche Medikament gegeben.“ Elsbeth zitterte am ganzen Leib und war unfähig, etwas zu tun. „Was hast du ihr gegeben?“ Sie sagte es mir. Ich wusste, was zu tun war und nach einer halben Stunde hatte ich die alte Dame wieder stabilisiert. „Bitte verrate mich nicht, wenn das rauskommt, verliere ich die Arbeit und wovon soll ich dann leben?“
Ja, wovon sollte sie dann leben? Konnte ich zulassen, dass sie die Arbeit verlor und auf der Straße stand? Sie war doch meine Freundin. Sie hatte doch schon genug Schlimmes erlebt. Ich habe niemandem etwas gesagt. So ging es zwei Jahre lang. Ich habe ihr immer wieder aus der Klemme geholfen, hab ihrem Freund Rudolf ihre Sucht verschwiegen, weil sie Angst hatte, er würde sie nicht heiraten, wenn er es wüsste. Ich habe Schichten für sie übernommen, wenn sie zu betrunken war, um ihren Dienst anzutreten.
Aber all das hat sie nicht glücklicher gemacht – im Gegenteil. Immer wieder erzählte sie von den Russen, auch noch, nachdem sie verheiratet war. Immer wieder weinte sie über ihr verkorkstes Leben, dabei hatte sie mit Rudolf einen Mann, der sie wirklich liebte, und sie hatte eine Arbeit und ein Zuhause. Und mich. Mich, die sie immer wieder ihre Fehler ausbügeln ließ. Mich, die sie immer wieder brauchte, wenn etwas zu erledigen war, was sie unter normalen Umständen auch selbst hätte erledigen können. Mich, die sie immer häufiger beschimpfte, weil ihr irgendwas nicht gut genug war. Mich, die sich dauerhaft zu ihrem Trottel machen ließ.
Mit der Zeit wurde ich immer wütender auf sie. Sie saß da und soff, obwohl sie glücklich und zufrieden hätte sein können. Und ich war diejenige, die ihr das ermöglichte. Als Elsbeth das nächste Mal nicht zum Dienst erschien, sagte ich nicht wieder, dass wir die Schichten getauscht hätten, sondern ging einfach nach Hause. Die Oberschwester rief bei Elsbeth an, die besoffen den Hörer abhob und sagte, sie habe gerade wichtigere Dinge zu tun, als irgendwelche Kranken auf die Bettpfanne zu setzen. Daraufhin war sie ihre Arbeit los. Und mir gab sie die Schuld. Bis heute denke ich, sie hatte Recht. Mein Verstand weiß, dass es nicht stimmt, aber mein Herz glaubt noch immer, sie hatte Recht.“
Eine Weile sagte niemand etwas. Ingrid konnte noch nicht zuende erzählen, weil die Erinnerungen sie wieder in das gleiche Gefühlschaos stürzte, das sie damals empfunden hatte.
„Ich nehme Sonja auch alles ab, was sie unter normalen Umständen selbst tun könnte. Weil sie es einfach nicht schafft“, sagte Peter. „Und ich habe sie auch schon mehrfach davor bewahrt, die Arbeit zu verlieren. Das macht man doch, wenn man den Partner liebt und will, dass es ihm gut geht.“
„Könnt ihr Euch erinnern, dass ich sagte, der Alkoholiker habe zwei Waffen: die Wut und die Angst? Über die Wut haben wir bereits gesprochen. Schlimmer aber ist die Fähigkeit des Alkoholikers, Angst zu erwecken. Durch Angst fühlt sich die Bezugsperson genötigt, dem Alkoholiker abzunehmen, was nur von ihm selbst getan werden kann, wenn die Krankheit zum Stillstand gebracht werden soll.“ Martin schwieg eine Weile.
„Das verstehe ich nicht“, sagte Ingrid.
„Bitte geh’ für mich einkaufen, sonst habe ich nichts mehr zu Essen im Haus.“ Die Familie hat Angst, dass der Alkoholiker sich nicht vernünftig ernährt und nimmt ihm den Einkauf ab. Aber: Was die Familie bereits getan hat, kann der Alkoholiker nicht mehr selbst tun. Das verstärkt seine Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe. Und es verhindert, dass er selbst Verantwortung für sein Leben übernimmt. Wenn jemand für den Alkoholiker einkaufen geht, muss der selbst nicht mehr vor die Tür. Die alltäglichen Dinge des Lebens zu bewältigen, ist aber eine Aufgabe, der er sich stellen muss.
Wenn die Familie aus Angst alles tut, um den Alkoholiker vor den Folgen seines Tuns zu bewahren, ist sie Co-abhängig. Es geschehen zwei Dinge: Der Alkoholiker bekommt ein Gespür dafür, wie er die Familie nach Gutdünken beeinflussen kann, indem er ihr Angst macht. Er spielt sich auf wie der allmächtige Gott. Er verliert den Respekt vor seinen Bezugspersonen. Er macht sie zu Komplizen bei seinem Ausweichen vor der Verantwortung.
Zugleich aber ist er sich bewusst, dass alle anderen mehr können als er und dass er von ihnen abhängig ist. Das verstärkt seinen Minderwertigkeitskomplex.
Die Alkoholkrankheit kann daher am besten überwunden werden, wenn die Familie dem Alkoholiker die Verantwortung für die Folgen seines Handelns konsequent selbst überlässt.
Wenn der Kühlschrank leer ist, gibt es eben für ihn nichts zu essen, bis er selbst vor die Tür geht und einkauft. Das ist der erste Schritt.“
„Das heißt, es war richtig von mir, Elsbeths Schicht nicht zu übernehmen, auch wenn sie dadurch ihre Arbeit verloren hat?“, fragte Ingrid.
„Ja, Ingrid. Es war das Beste, was du für Elsbeth tun konntest.“
(Fortsetzung folgt)
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Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Alkoholkrankheit
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