Kims Mutter (7) – letzter Teil

FeeenweinRike„Als ich Sonja kennen lernte, hat mich ihr Herz berührt. Heute ist dieses Herz umschlossen von Mauerringen aus geleerten Flaschen und ich finde keinen Zugang mehr zu ihm. Sonja fügt den Mauern immer mehr Flaschen hinzu. Sie verändert sich, wird ein anderer Mensch. Und ich habe Angst, dass ich sie nicht mehr wiederfinde, wenn es eines Tages doch gelingt, die Ringe einzureißen.“

Peter Wengert wirkte niedergeschlagen. Seit vier Monaten kam er nun schon in die Selbsthilfegruppe, hatte so gut es ging alle Ratschläge befolgt, und doch waren bei seiner Frau nur kleine Fortschritte zu erkennen. Er wusste, dass er selbst sie nicht würde heilen können. Dass Sonja von sich aus den Weg in professionelle Hände suchen musste. Obwohl es ihm schwer fiel, versuchte er nun nicht mehr, Sonja vom Trinken abzuhalten, doch er überließ es ihr, die Konsequenzen zu tragen. Sie hatte inzwischen ihre Arbeit verloren. Aber sie behauptete noch immer, sie hätte alles im Griff.

Irgendwie schaffte sie es, den Alltag zu meistern. Anfangs war sie sehr erstaunt gewesen, als Peter ihr gesagt hatte, sie möge ab sofort wieder einkaufen gehen, ihm sei das nach der Arbeit zu anstrengend. Daraufhin war drei Tage lang der Kühlschrank leer geblieben. Peter fuhr in dieser Zeit mit Kim auswärts essen und ließ Sonja zuhause. Sie tobte. Sie schrie. Sie versuchte, sich bei Gitta und Frau Schneider etwas zu essen auszuborgen, doch die beiden waren eingeweiht und gaben nichts heraus. Schließlich ging sie einkaufen, ein paar Teile nur, aber sie kaufte ein, inzwischen fast jeden Tag.

Peter wusch und bügelte nur noch seine und Kims Sachen und überließ es Sonja, sich um ihre Kleidung zu kümmern. An guten Tagen schaffte sie es, ein wenig zu waschen und zu bügeln. Aber manchmal trug sie zwei Wochen lang dieselben Sachen, weil sie nichts anderes mehr zum Anziehen hatte. Peter ertrug den penetranten Gestank, der in dieser Zeit von ihr ausging. Wenn Sonja schimpfte, ging er ins Nebenzimmer. Wenn sie tobte, brachte er Kim zu Gitta und ging selbst zu Frau Schneider. Wenn sie versuchte, ihm Angst einzureden, sagte er: „Es ist deine Entscheidung zu trinken, also trage du auch die Konsequenzen daraus.“

Kim war in den letzten Monaten seine Verbündete geworden. Peter hatte ihr erklärt, dass sie ihrer Mutter am besten damit half, indem sie nichts für sie tat, was sie selbst tun konnte. Außerdem schärfte er ihr ein, dass sie ein Gespräch mit Sonja sofort abbrechen sollte, wenn ihr unwohl wurde. Sonja versuchte es mit allen Tricks. „Du hast mich nicht mehr lieb! Was bist du nur für eine Tochter!“, schimpfte sie, als Kim ihr nicht eine neue Flasche aus der Vorratskammer holen wollte. Danach meldete Peter seine Tochter bei der Ganztagsbetreuung der Schule an und holte sie nach der Arbeit dort ab, damit Kim nicht mit Sonja allein bleiben musste.
Kim wollte weiterhin keine Selbsthilfegruppe für Jugendliche besuchen, doch Gitta hatte ihr ein Internetforum empfohlen, wo sie sich, wenn sie bei Gitta war, mit anderen Kindern austauschte.

Aber im Grunde hatte sich nichts geändert. Sonja trank weiterhin, regelte ihre Dinge, wenn sie dazu in der Lage war, und versuchte ansonsten, ihre Familie zu schikanieren. Zugleich baute sie sich eine eigene Welt auf. In ihrer Version der Vergangenheit war sie immer das Opfer und alle, die ihr begegnet waren, hatten ihr Unrecht angetan. Es war die Schuld ihrer Chefin, dass sie ihre Arbeit verloren hatte. Davon, dass sie selbst Geld aus der Kasse genommen hatte, wollte sie nichts mehr wissen. „Ich hätte es doch vor Ladenschluss zurückgelegt“, argumentierte sie, wenn man sie darauf ansprach. Oft genug beschimpfte sie Peter als Mörder, weil er sie auf den Couchtisch gestoßen hatte. Davon, dass sie ihn zuvor provoziert hatte und er ihr im Grunde nicht hatte wehtun wollen, sprach sie nie. Selbst an Kim ließ sie kein gutes Haar.

„Sonja wird nie wieder so wie früher sein, nicht wahr? Selbst wenn sie aufhört zu trinken, bleibt doch ihre veränderte Persönlichkeit, wie sie jetzt ist.“
„Es kommt darauf an, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Die Wesensveränderung ist auf die chronische Alkoholvergiftung zurückzuführen. Es gibt trockene Alkoholiker, die ein halbwegs normales Leben führen und auch ihre Gefühlswelt wieder in den Griff bekommen. Aber es gibt auch welche, die nie wieder so werden, wie sie waren.“
„Wenn Sonja eine Chance haben will, muss sie sich also schnellstmöglich in Behandlung begeben?“
„Du weißt, dass sie den Schritt selbst tun muss.“
„Ja, das weiß ich.“

Als Peter Wengert an diesem Abend von der Selbsthilfegruppe nach Hause kam, hatte er einen Entschluss gefasst.
„Sonja, ich werde mir mit Kim eine eigene Wohnung suchen. Ich liebe Dich immer noch sehr, aber ich halte die jetzige Situation nicht mehr aus. Wenn du irgendwann Hilfe brauchst, wenn ich einen Arzt oder eine Klinik suchen soll, die deine Krankheit behandeln, bin ich jederzeit für dich da. Aber solange du dich nicht behandeln lässt, kann ich nicht mehr mit dir zusammenleben.“
„Von mir aus geh zum Teufel.“
‚Vor genau dem laufe ich weg’, dachte er. Aber er sprach es nicht aus.

Ein paar Monate später stand der Umzug kurz bevor. Sonja litt Höllenqualen. Sie hatte alles versucht: Sich bei Peter eingeschmeichelt, den Haushalt erledigt, regelmäßig eingekauft. Manchmal kochte sie sogar. Doch Peter blieb bei seinem Entschluss. Dann hatte sie ihm gedroht, dass sie das Sorgerecht für Kim beantragen würde und dass er ihr lebenslang Unterhalt zahlen müsse, weil sie ja nicht arbeiten könne. Als er auch darauf nicht reagierte, erniedrigte sie sich: „Bitte, Peter, was soll ich denn ohne dich machen? Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann. Ich liebe dich doch und mache auch alles, was du sagst. Denk an die schönen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben. Die können wir wieder haben. Ich werde mich bessern, versprochen!“ Wie oft hatte er diesen Satz schon gehört? „Versprich mir nichts, was du nicht halten kannst“, antwortete er ihr.
Zwei Tage vor dem Umzug fiel dann der Satz, vor dem sich Peter die ganze Zeit gefürchtet, für den er sich aber schon eine Antwort zurechtgelegt hatte: „Wenn du ausziehst, bringe ich mich um!“
„Sonja, du bringst dich schon seit Jahren um. Mit jedem Schluck Alkohol, den du trinkst. Die Sonja, die ich liebe und die ich geheiratet habe, ist fast schon tot. An deren Stelle ist jemand, der sich nicht helfen lassen möchte und mit der ich nicht mehr leben kann. Ich werde gehen, Sonja. Und was immer du dann tust, liegt nicht in meiner, sondern in deiner Verantwortung.“

Als er am ersten Abend mit Kim in der neuen Wohnung zusammensaß, klingelte das Telefon. Peter erkannte Sonjas röchelnde Stimme und wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Er rief den Notarzt an und fuhr dann selbst so schnell er konnte zu ihr. Sie war bewusstlos. Zwei Röhrchen Tabletten lagen neben ihr, auf dem Boden eine Flasche Schnaps. Der Notarzt schaffte es, sie zu reanimieren. „Sie ist Alkoholikerin. Bitte bringen Sie sie in eine entsprechende Klinik.“ Die Sanitäter nickten. „Sie kommt ins St. Vinzenz-Krankenhaus.“
Als Peter nach Hause kam und Kim erzählte, dass ihre Mutter im Krankenhaus war, ahnte sie den Grund.
„Sind wir schuld, dass Mama sich umbringen wollte?“
„Nein Kim, das sind wir nicht. Die Krankheit ist Schuld, einzig und allein die Krankheit. Sie macht aus Mama einen anderen Menschen als den, den wir lieben. Aber jetzt kann alles gut werden. Die Mama ist jetzt in einer Klinik, in der die Ärzte auf die Alkoholkrankheit spezialisiert sind. Jetzt hat sie eine Chance.“
„Du hast schon so oft gesagt, dass alles gut wird und es ist nicht gut geworden.“
„Ja, das habe ich. Weil ich die Hoffnung nicht aufgebe. Weil ich glaube, dass hinter dieser Fassade aus Flaschenmauern noch immer die Frau steckt, die ich liebe und die Mutter, die für dich die beste Mama der Welt war.“
„Du bist ein Träumer, Papa!“
Was sollte er darauf sagen? Peter verstand Kims Resignation nur allzu gut. Irgendwann würde auch er der Realität ins Auge sehen müssen. Wenn Sonja es diesmal nicht schaffte, wenn sie sich weiter weigerte, nach dem Entzug auch eine Langzeittherapie zu machen, dann war wirklich alles verloren. Für heute aber blieb ihm ein Lichtblick Hoffnung.

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Bildquelle: Rike / Pixelio
Infos: Alkoholkrankheit

  • Intensive und aufklärende Worte.

  • Danke Koka. Ich wünschte nur, ich hätte manches früher gewusst. Vor allem, dass der Alkoholiker umso mehr den Respekt verliert und einen umso herablassender behandelt, je mehr man für ihn tut.

  • Inzwischen habe ich die ganze Geschichte gelesen. Es ist eine resignierende Erkenntnis, nicht helfen zu können. Oder doch: helfen zu können nur durch Unterlassung von Hilfe. Ich hoffe nicht, dass ich bei einem geliebten Menschen jemals in eine solche Situation komme.
    Stark geschrieben, klar und sachlich, mit einem schwelenden, tiefen Gehühlshintergrund.

  • Das hast Du gut erkannt. Den schwelenden, tiefen Gefühlshintergrund aus Zerrissenheit zwischen Liebe für die Person und Abscheu vor dem, was der Alkohol aus der Person macht, findest Du bei allen Bezugspersonen von Alkoholikern. Die entsprechenden Foren sind voll davon. Das ist es auch, was es so schwer macht – die widerstreitenden Gefühle.

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