Das Schicksal, der Zufall und das Buch des Lebens

Shuhei führte seinen schwarzen Hengst an den See, dessen Wasser die ersten Sonnenstrahlen spiegelte. Er kniete neben ihm nieder und so stillten beide ihren Durst. Der Hochnebel hing noch in den Bergen, die Luft war morgenkühl und feucht. Einen halben Tagesritt würde es dauern, bis sie die Stadt erreichten.

Der Ruf Shuheis eilte ihm voraus. Er war der bekannteste Krieger des Reiches, keinem Fürsten treu, nur der Gerechtigkeit ergeben. Wer auch immer von ihm sprach, flüsterte ehrfürchtig seinen Namen.

Aufrecht ritt er in die Stadt ein. Sein Pferd schnaubte und tänzelte, und die Nachricht von der Ankunft des Kriegers breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Shuhei brachte den Rappen in einen Stall, in dem er ihn gut aufgehoben wusste. Dann aß er und besorgte sich ein Zimmer für die Nacht.

Die Soldaten des Kaisers ergriffen ihn ihm Morgengrauen. Sie überraschten ihn im Schlaf und noch ehe er Schwert und Bogen bei der Hand hatte, war er gefesselt in ihrer Gewalt. „Der Kaiser führt Krieg gegen die Nomaden im Norden“, sagte der Kommandant. „Du sollst an unserer Seite sein.“
„Ich kämpfe für niemandes Macht und Land, nur um meiner selbst und der Gerechtigkeit Willen“, antwortete Shuhei.
„Wir werden dich auf das Schlachtfeld führen. Dort kannst du um dein Leben kämpfen“, lachten die Soldaten des Kaisers.
Drei Tage lang ritten sie nach Norden.

In der ersten Nacht hatte Shuhei einen Traum. Er sah sich, als Jüngling noch, im Gefecht mit einem Meister, der stärker war als er. Unter unzähligen Stichen brach er zusammen und der Meister wähnte ihn tot und ließ von ihm ab. Shuhei jedoch überlebte und reiste, kaum dass er gesundet war, zum Stein des Schicksals. „Ich danke dir, dass du mich überleben ließest“, sprach er zu ihm und brachte ein Opfer dar. Doch das Schicksal antwortete: „Dein Leben lag nicht in meiner Hand.“

In der zweiten Nacht träumte Shuhei von einem Fluss, in dem ihn einst Wegelagerer ertränkten, die ihn berauben wollten. Die Strömung riss ihn mit sich fort, bis er in einem Kehrwasser an Land gespült wurde. Ein kurzer Aufschlag, ein Atemzug, und er, der Totgeglaubte, lebte. Er reiste zum Strudel des Zufalls, brachte ein Opfer dar und sprach: „Ich danke dir, dass du mich überleben ließest.“ Doch der Zufall antwortete: „Dein Leben lag nicht in meiner Hand.“

In der dritten Nacht, der Nacht vor dem Gefecht mit den Nomaden des Nordens, träumte Shuhei von der Begegnung mit seinem Ebenbild. Ein Krieger wie er, doch mit der neuen Waffe in der Hand, deren Schuss ihn traf, dass er zu Boden ging. Der fremde Krieger ließ ihn liegen, sich der Kraft der Kugel bewusst, die zum Töten erschaffen war. Doch Shuhei überlebte auch das. Ein Arzt fand und rettete ihn. So reiste Shuhei zur Höhle des Weisen, der das Buch des Lebens hütete, und brachte ein Opfer dar. „Ich danke dir, dass du mich überleben ließest.“ „Im Buch des Lebens stand dein Tod noch nicht geschrieben“, sagte der Weise.

Zwei Stunden vor dem Morgengrauen brachte eine Frau den Soldaten zu essen, damit sie gestärkt in die Schlacht ziehen konnten. Auch die gefangenen Krieger, die an ihrer Seite kämpfen sollten, erhielten Wasser und Nahrung. „Ich hatte seltsame Träume“, flüsterte Shuhei der Frau zu, „ich träumte meine Tode, die ich nicht sterben konnte.“
„Weißt du nicht, dass sich der Tod niemanden nimmt, der das Leben nicht kennt?“, fragte sie. Da dachte Shuhei über sein Leben nach und er erinnerte sich an Gehorsam, Disziplin und Kampf, die es bestimmt hatten.

Eine Stunde später, als die Soldaten sich bereits zur Schlacht rüsteten und die Gefangenen nicht bewachten, erschien die Frau erneut und löste Shuheis Fesseln. „Geh!“, sagte sie. „Und wenn du die Freiheit in deine Geschichte geschrieben hast und die Liebe und das Leben, wenn du weißt, dass der Tod nicht den Tod, sondern das Leben nimmt, dann erst komme wieder und du wirst sterben können.“

Mit diesen Worten wies sie Shuhei den Weg durch die Zelte zur Koppel der Pferde, wo er seinen Hengst nahm und fortritt, ohne sich noch einmal umzudrehen.

  • Eine sehr stimmungsvolle, märchenhafte und tiefgründige Erzählung, die meinetwegen noch längst nicht zu Ende hätte sein müssen.

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