Die Insel im See

Ein märchenhafter Mehrteiler, hier in Gänze präsentiert, vielleicht druckt ihr es aus und genießt es in Ruhe.

Der See

Im Reich des Zauberers lebte ein Mann, der sein Leben lang anderen zu Diensten war. Als Kind musste er Frondienste leisten, später wurde er als Krieger in jede Schlacht gerufen, die es zu kämpfen galt, dann erkannte man seine Klugheit und wählte ihn zum Oberhaupt. Als solches musste er für das Wohl der Sippe sorgen, Recht sprechen und den Frieden wahren. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendetwas zu erledigen war.
„Ich bin müde“, dachte der Mann immer öfter, doch er kam nicht zur Ruhe.

Eines Tages war er wieder einmal unterwegs und rastete an Rande eines kleinen Waldstückes. Er sog den Geruch der Bäume ein, lauschte den Vögeln und genoss diesen Augenblick, bis ihm seine heutige Aufgabe wieder in den Sinn kam. Er sollte einen Streit schlichten und würde sich das Gezeter beider Parteien anhören müssen. Allein der Gedanke daran erregte seinen Missmut.

Plötzlich sah der Mann in einiger Entfernung eine Frau auf das Waldstück zugehen. Sie trug ein Kleid und eine befleckte Schürze, ihr Gang war aufrecht und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vor einem Holunderbusch blieb sie stehen, bog dessen Zweige auseinander und schlüpfte durch die entstandene Lücke in den Wald.

Offenbar hatte sie den Mann nicht bemerkt, der sofort seine Rast beendete und der Frau folgte. Hinter dem Strauch wandt sich ein schmaler Pfad in den Wald hinein. Bald war die Spur kaum noch zu erkennen. Dornengestrüpp zerrte an des Mannes feiner Kleidung und doch setzte er seinen Weg fort, bis er plötzlich vor einem See stand. Erstaunt hielt er inne. Der Wald hatte den See so unvermittelt freigegeben, dass die gleißende Sonne, die sich darin spiegelte, nun die Augen des Mannes blendete. So erkannte er nur schemenhaft, dass die Frau all ihre Kleidung am Ufer des Sees abgelegt hatte und auf eine Insel zu schwamm, die sich in dessen Mitte befand. Schon nach kurzer Zeit kam sie dort an, stiegt aus dem Wasser und verschwand hinter den Felsen, die das Ufer der Insel säumten.

Der Zauber

Der Mann zögerte nicht lange, legte seinerseits alle Kleidung ab und schwamm auf die Insel zu. Doch je länger er schwamm, desto weiter entfernt schien sie ihm, während das Ufer noch nah war. Es ging wohl nicht mit rechten Dingen zu: Die Frau hatte die Insel binnen kurzer Zeit erreicht, während ihm nun mit jedem Zug die Kräfte schwanden. Als die Sonne bereits hinter den Bäumen versank, gab der Mann sein Vorhaben auf und kehrte zum Ufer zurück, wo er erschöpft liegen blieb.

„Ihr habt die Insel gefunden, doch Ihr werdet sie nicht erreichen“, hörte er plötzlich die Frau neben sich sagen. er musste eingeschlafen sein. Sie war zurückgekehrt und wieder bekleidet.
„Warum gelangt Ihr dorthin, wenn ich es nicht kann?“, fragte er.
„Diese Insel erreicht Ihr nur dann, wenn Ihr Euch von allen äußeren Zwängen befreit.“
„Aber ich habe mich befreit, ich vernachlässigte meine heutigen Pflichten, legte mit der Kleidung meinen Stand ab sowie die Erwartungen, die alle an mich haben, und folgte Euch.“
„Was hat Macht über Euch, außer Eure Pflichten?“, fragte sie.
Der Mann schwieg.
„Legt alle äußeren Zwänge ab und Ihr werdet die Insel erreichen.“
„Der Preis ist hoch“, erwiderte er, „was wird die Belohnung sein?“
„Was Ihr auf der Insel findet, kann Euch niemand sagen. Die Legenden erzählen, Ihr findet die Freiheit dort, aber die Suche danach beginnt erst, wenn Ihr die Insel betreten habt. Noch schwieriger, als die äußeren Zwänge abzulegen, ist es, die inneren zu besiegen.“
„Habt Ihr die Freiheit gefunden?“
„Nun, ich erreiche die Insel, sie ist mir Zuflucht und Burg. Ich finde Ruhe, bin niemandes Magd noch Herrin, bis ich die Insel wieder verlasse und zurückkehre in die Welt.“
„So ist die Insel nicht Teil Eurer Welt?“, fragte er.
„Die Insel ist eine Welt für sich, geschaffen, um eine solche zu sein.“
„Eine eigene Welt?“, fragte er nach.
„Eine Welt, in der sich Menschen aus verschiedenen Welten nah sein können, die sich sonst niemals begegnet wären.“
„Wie Ihr und ich?“
Sie errötete. „Vor langer Zeit“, erzählte sie, „legte ich einen Zauber um diesen Wald, auf dass ihn nur betreten könne, wen mein Herz nicht sucht, sondern findet. Und ich legte einen Zauber in den See, auf dass ihn nur durchqueren könne, wer genügend Freiheit besitzt, mir meine zu lassen. Und ich legte einen Zauber um mein Herz …“ Sie stockte.
„Um Euer Herz…?“, wiederholte er, damit sie ihren Satz fortsetzte, doch sie lächelte nur, lief in den Wald und verschwand, während er noch zu verstehen versuchte, was sie gerade gesagt hatte.

Das Herz

Als der Mann die Burg erreichte, von der aus er seine Sippe regierte, empfingen ihn seine Freunde, die sich in den vielen Schlachten an seiner Seite bewährt hatten. „Da bist du ja endlich, komm trink mit uns!“
Der große Festsaal war erleuchtet, auf den Tischen war reichlich aufgetragen und die Gesellschaft aus Frauen und Männern lachte und sang. Der Mann, der diese Ausgelassenheit am Ende eines Tages sonst allzu gern genoss, verabschiedete sich mit einem „Heute nicht“ in seine Gemächer.

„Die Insel ist eine Welt für sich“, erinnerte er sich an die Worte der Frau. Keine Erwartungen. Keine Sippe, keine Streithälse, niemand, der unterhalten werden wollte. Oder doch? Vielleicht wollte sie unterhalten werden, wie alle Frauen Unterhaltung suchten. Andererseits hatte sie so zufrieden ausgesehen, ausgeglichen, nicht so, als ob sie jemanden bräuchte, der ihr die Zeit vertrieb.
„Ich finde Ruhe“, hatte sie geantwortet auf die Frage, ob sie die Freiheit gefunden habe. Ruhe und Freiheit waren nicht dasselbe. Sie war seiner Frage ausgewichen, wie sie auch die Frage nach dem dritten Zauber nicht beantwortet hatte. Und nicht ihren Stand verraten. „Bin nicht Magd, noch Herrin“, hatte sie gesagt. Diese Frau hatte mehr Geheimnisse hinterlassen als jede vor ihr.

Am nächsten Tag begab sich der Mann etwas früher zum See, um die Ankunft der Frau nicht zu verpassen. Tatsächlich erreicht sie kurz nach ihm die Stelle, von der aus sie tags zuvor zur Insel geschwommen war.
„Beantwortet Ihr mir eine Frage?“, bat er sie.
„So stellt sie“, gab sie zur Antwort.
„Habt Ihr die Freiheit gefunden?“
„Ich fand die äußere Freiheit und finde die innere mit dem Mann, der den dritten Zauber löst.“
„Welches ist der dritte Zauber?“
Sie lächelte. „Ihr habt mich um eine Antwort gebeten und erwartet nun eine zweite?“
„Ist der vierte Zauber, dass ich Euch jeden Tag nur eine Frage stellen darf?“, neckte er sie.
Nun lachte sie. „Nein“, antwortete sie, „es gibt keinen vierten Zauber, aber ich darf Euch den dritten nicht sagen, bevor Ihr den zweiten nicht gelöst habt.“
„Oh, und was ist mit dem ersten? Ihr sagtet, dass den Wald nur betreten kann, wen Euer Herz nicht sucht, sondern findet.“
Die Frau errötete und schwieg kurz. Dann sagte sie: „Mein Herz hat niemanden gesucht, aber als ich Euch sah, hat es Eures erkannt.“
„Mein Herz?“, fragte er erstaunt.
„Ja.“ Ihre Stimme klang fest und sicher.
„Niemand hat je nach meinem Herzen gefragt.“
„Der erste Zauber ist gelöst, Ihr habt den Wald betreten, das ist Beweis genug, dass Ihr eines habt“, beharrte sie.
„Ihr seid ein seltsames Wesen“, antwortete er und fragte dann: „Werdet Ihr heute zur Insel schwimmen?“
„Werdet Ihr mich begleiten?“
„Eines Tages, wenn ich alle Zwänge überwunden habe.“
„Ich vertraue auf Eure Stärke“, antwortete sie, legte ihre Kleidung ab und schwamm zur Insel hinüber.

Als der Mann am Abend heimkehrte, blieb er wieder dem Gelage fern. Und diesmal rührte er auch den Krug des besten Weinbrandes nicht an, den ihm sein Diener mehrmals am Tag aufs Zimmer brachte.


Kein Wein, kein Weib, kein Gesang

Der Mann erwachte zitternd, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Körper gierte nach dem Inhalt des Kruges, sein Verstand wog das Für und Wider ab, schließlich packte ihn die Wut und er zerschmetterte den Krug an der Wand. Der Weinbrand spritzte über das Mauerwerk und rann zu Boden.
Der Diener kam gerannt, um nach dem Rechten zu sehen, zog sich aber angesichts seines laut fluchenden Herrn rasch zurück. „Dieses verdammte Weib!“, hörte er ihn brüllen, „dieses verdammte …“
Zwei seiner Freunde stürzten herbei, doch auch sie wagten es nicht, das Zimmer zu betreten, nachdem ihnen schon durch den Türspalt ein „Lasst mich in Ruhe“ entgegenschallte.
„Meine Stärke, meine Stärke … nichts hat Macht über mich, nichts!“, schrie es von innen, dann war es still.
Die Freunde wagten einen weiteren Blick. Der Mann lag auf dem Boden inmitten der Scherben des Kruges und schlief. Sie beschlossen, es dabei zu belassen.

So ging es viele Tage. Der Mann blieb auf seinem Zimmer und wollte niemanden sehen. Das Essen, das man ihm brachte, rührte er kaum an und jeden Krug Weinbrand zerschlug er an der Wand, wobei er brüllte: „Nichts hat Macht über mich, nichts!“ Nach zwei Wochen ließ er sich ein Bad richten und erschien bald darauf prächtig gekleidet im Festsaal. „Feiert das heute Fest mir zu Ehren. Ab morgen nehme ich mein Tagwerk wieder auf.“
„Trink mit uns, wenn wir Dir zu Ehren feiern“, riefen seine Freunde, „vergiss die Pflichten wenigstens am Abend.“
„Der Weinbrand war die fordernste Pflicht, die ich hatte“, antwortete der Mann und beeilte sich, in den Wald zu kommen.


Freiheit, die sie nicht meinte

Am See wartete die Frau bereits auf ihn. „Werdet Ihr mich heute begleiten?“, fragte sie.
„Heute ja“, antwortete er.
Beide legten ihre Kleidung ab und erreichten nach kurzer Zeit die Insel.
Kaum hatte er sie betreten, spürte der Mann die Ruhe, von der die Frau ihm erzählt hatte. Dies hier war wirklich eine eigene Welt. Er war sich seiner Welt noch bewusst, aber er wusste, dass nichts und niemand von dort ihn hier finden konnte. Er legte sich ins Gras, ließ die einzelnen Wolken über sich hinweg ziehen, nahm den Geruch war und die Stille, die nur durch den vereinzelten Gesang eines Vogels unterbrochen wurde. Es kam ihm vor, als wäre er ganz allein in dieser Welt, allein, aber nicht einsam, weil er es sich so erwählt hatte. Plötzlich fiel ihm die Frau wieder ein. Sie saß nur ein paar Mater von ihm entfernt auf einem Felsen und lächelte ihn an.
Wollte sie, dass er sich mit ihr unterhielt?
Er wurde lieber weiter die Ruhe genießen und nicht wieder eines anderen Menschen Erwartungen erfüllen. Sie nickte lächelnd, als habe sie seine Gedanken gelesen, erhob sich und spazierte ganz in sich am Ufer der Insel entlang.

Der Mann atmete durch. Keine Erwartungen. Nicht einmal von ihr. Er konnte hier tun und lassen, was immer er wollte. Wenn das die Freiheit war, von der sie gesprochen hatte, dann war sie wahrhaft großartig.

Plötzlich hatte der Mann das Gefühl, seine Freude mit jemandem teilen zu müssen. Er wollte der Frau nachrufen, doch er kannte nicht einmal ihren Namen, so folgte er ihr schnellen Schrittes.
„Ich danke Euch sehr“, sagte er, „hier finde ich wahrlich die Freiheit, die es in meiner Welt nicht geben kann.“
„Ihr werdet kommen und gehen, wie es Euch beliebt, ebenso wie ich“, antwortete sie. Dabei blickte sie ihm so ernst in die Augen, als erwartete sie, dass er ihre Freiheit einschränken wolle.
„Was ist der dritte Zauber?“, fragte er daraufhin.
„Ich legte einen Zauber um mein Herz, auf dass mich nur gewinnen könne, wer frei von Angst mir meine nimmt.“
„Aber ich habe doch Euer Herz schon mit dem ersten Zauber …“, setzte er zu einer weiteren Frage an, doch da war sie schon ins Wasser gesprungen und schwamm zum Wald zurück.

Erwartungen

Der Mann kam nun auf die Insel, wann immer er sich nach Freiheit sehnte. Dann legte er sich ins Gras und erneuerte seine Kräfte. Er fühlte sich wohler, wenn auch die Frau auf der Insel war, und so fragte er sie eines Tages: „Werdet Ihr morgen hier sein?“
Da wurde sie wieder ernst und antwortete: „Ich werde kommen und gehen, wie es mir beliebt.“
„Ich habe nicht vor, Euch Eure Freiheit zu nehmen, ich habe Euch nur gerne bei mir“, versucht er sie aufzumuntern.
„Ich habe Euch auch gerne bei mir“, vertraute sie ihm an, „aber nehmen wir einander nicht die Freiheit, wenn wir nicht nur genießen, was ist, sondern erwarten, dass es morgen wieder so sein wird? Wenn ich Euch mein Kommen verspreche, wird es mir zur äußeren Pflicht und ich kann die Insel nicht erreichen.“

Das klang einleuchtend und doch fühlte es sich falsch an. Der Mann schüttelte den Kopf: „Bedeutet das, dass Ihr nie etwas mir zuliebe tun werdet?“
Da lächelte die Frau und antwortete: „Was immer ich tue, tue ich aus freien Stücken, weil ich es will, und nicht, weil Ihr es erwartet. Was immer Ihr tut, tut Ihr aus freien Stücken, und nicht, weil ich es erwarte. Und doch können wir es einander zuliebe tun.“
„Ihr habt erwartet, dass ich mich von allen Zwängen befreie“, widersprach er ihr.
„Das habt Ihr nicht für mich getan, sondern um Eure Freiheit zu finden.“
„Ich tat es, weil Ihr es verlangtet.“
„Ihr tatet es, weil Ihr auf die Insel wolltet.“
„Es war Euer Zauber, der es erforderte.“
„Wir werden nicht weiter darüber streiten“, sagte sie. „Die äußere Freiheit findet man nur für sich selbst. Hättet Ihr Eure Zwänge für mich besiegt, wäre ich Euer neuer Zwang gewesen und Ihr hättet die Insel nicht erreicht.“

Vielleicht hatte sie Recht. Er hatte ihren Zauber verflucht, als er gegen den Weinbrand gekämpft hatte, aber im Grunde war es ein Kampf mit und für sich selbst gewesen.
„Ihr habt mir noch nicht Euren Namen verraten“, lenkte er ab, „und noch nicht nach meinem gefragt.“
„Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns Namen geben“, antwortete sie und schwamm ans andere Ufer zurück.

Die Angst

„Darf ich Euch nach dem dritten Zauber fragen?“, bat der Mann die Frau, als sie wieder zusammen auf der Insel waren.
„Natürlich, fragt“, antwortete sie.
„Ihr sagtet, Ihr legtet einen Zauber um Euer Herz, auf dass Euch nur gewinnen könne, wer frei von Angst Euch Eure nimmt.“
„Ja.“
„Was ist Eure Angst?“
„Die Frau senkte ihren Blick und sprach: „Zu verlieren, wen ich liebe.“

Der Mann dachte über ihre Worte nach und so schwiegen beide eine Weile. Dann sagte er: „Wenn Ihr liebt und den Geliebten halten wollt, unterwerft Ihr ihn dann nicht dem äußeren Zwang, der ihn davon abhält, die Insel zu erreichen?“
Darauf erwiderte sie: „Ich selbst muss gehen können, damit ich bleiben will. Wer mich fesselt, wird mich verlieren und so lege ich niemandem Fesseln an.“
„Aber Ihr wünscht Euch, dass der Geliebte bleibt?“
„Ich fürchte den Schmerz, wenn er geht.“
„Das ist dasselbe“, stellte er fest.
„Den Schmerz zuzulassen bedeutet, den Geliebten nicht zu bitten, dass er bleibt, wenn er gehen will.“
„Auch wenn Ihr es Euch wünscht?“
„Selbst wenn sein Gehen mich zerreißt.“

Wieder dachte der Mann eine Weile nach, dann sagte er: „Ihr sagtet, Ihr habt mein Herz erkannt und dass Ihr Euch wohl fühlt mit mir. Sagt mir: Wer ist der Mann, den Ihr liebt?“
„Ihr seid es“, flüsterte die Frau.
„Und wenn ich nun sagte, dass ich für immer ginge, würdet Ihr mich bitten, zu bleiben?“
„Nein, ich würde den Schmerz tragen.“
„Wie lange?“
„So lange er dauert.“
„Wie lange würde das sein?“
„So lange ich Euch liebe.“
„Und wie lange liebt Ihr mich?“
‚Für immer‘, dacht sie, doch sie schwieg.
„Bis ein anderer Mann die Insel erreicht“, schlug der Mann vor. Sie nickte kaum merklich.

So oder so

Der Mann erkannte, dass Ihr Nicken eine Lüge war. „Ihr werdet mich nicht verlieren, versprach er und hob sanft ihren Kopf, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Ihr werdet mich nicht verlieren. Solange ich frei bin, zu gehen, werde ich aus eigenem Wunsch zurückkehren.“
„Habt Ihr keine Angst, etwas in dieser Welt könnte Euch schmerzen?“, fragte sie.
„Was sollte mich und Euch schmerzen, solange unsere Liebe uns trägt?“, antwortete er.
„Sie trägt uns für immer“, lächelte sie.
„So ist es“, stellte er fest.
Sie besiegelten ihren Bund und lebten ihre Liebe bis ans Ende der Zeit auf der Insel im See.


So was gibt es nur im Märchen? Vielleicht. Hier kommt die Pessimistenversion:

Der Mann erkannte nicht, dass Ihr Nicken eine Lüge war. „Ihr würdet einen anderen Mann nehmen?“, fragte er nach.
„Wenn Ihr es nicht seid, der mir meine Angst nehmen kann“, antwortete sie.
„Liebt Ihr mich?“ fragte er erneut.
„Ja“, sagte sie mit fester Stimme.
„Was ist das für eine Liebe, wenn Ihr sie durch eine andere ersetzen wollt?“, stellte er sie in Frage.

Was sollte sie sagen? Die Wahrheit, dass sie niemanden nach ihm mehr lieben würde, legte ihm Fesseln an, die sie ihm nicht anlegen wollte. Er sollte sich nicht verantwortlich fühlen, wenn sie allein blieb, denn es war allein ihre Entscheidung. So wiederholte sie den dritten Zauber: „Es kann mich gewinnen, wer frei von Angst mir meine nimmt.“
„Und das kann auch jeder andere sein als ich!“, schrie er, sprang ins Wasser und schwamm zum Wald zurück. Sie hielt ihn nicht auf. Es hatte keinen Sinn, seine Angst war noch größer als ihre.

Als der Mann abends auf der Burg eintraf, ließ er sich drei Krüge Weinbrand bringen und bald schon trank er so viel wie zuvor, bis er eines Tages vom Stuhl fiel und nicht mehr aufstand.
Die Frau, die bis zu seinem Tod auf ihn gewartet hatte, kehrte danach nicht mehr zur Insel zurück.


Ist Euch das zu traurig? Grämt Euch nicht: Die Frau hatte ihre Liebe gefunden, der Mann zumindest für eine Weile seine Freiheit, es hätte noch anders ausgehen können. In der dritten Version wäre die Geschichte schon nach Kapitel 3 zu Ende gewesen. Ihr erinnert Euch?…

„Werdet Ihr mich (auf die Insel) begleiten?“, hatte die Frau gefragt.
„Eines Tages, wenn ich alle Zwänge überwunden habe“, hatte der Mann geantwortet.
„Ich vertraue auf Eure Stärke“, machte sie ihm Mut.

Doch jeden Abend, wenn der Mann auf die Burg zurückkehrte und seine Freunde ihn aufforderten, mit ihnen zu feiern, fiel er ein in deren Ausgelassenheit, in den Gesang, in den Reiz der willigen Frauen. Der Weinbrand ließ ihn seine Pflichten vergessen und seine Müdigkeit, er benebelte, was war und was sein könnte, und so kehrte der Mann bisweilen in den Wald zurück und malte der Frau und sich Wortbilder in den buntesten Farben, doch die Insel erreichten sie nie.

  • Sehr tiefsinnig. Eine schöne bildhafte Auseinandersetzung mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Besonders gut gefällt mir die sprachliche Heranführung an die verschiedenen Möglichkeiten die Geschichte zu beenden. Was soll ich noch sagen? Recht hast du!

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