C’est la vie

Luc beobachtete Manon, wie sie sich an ihrer Kaffeetasse festhielt. „Deine Schatten haben sich eingegraben, die schwarzen Tage und Nächte“, sagte er.
„Sinon il n’ya pas“, antwortete sie.
„Du irrst, mon amie, es gibt andere als diese“, widersprach er.
Manon inhalierte den Rauch ihrer Zigarette und starrte ihn an.
„Ja? Dann sag‘ mir mal …“, begann sie und ihre Worte wurden Wut und ergossen sich über ihn. Er hielt es aus, wie sie es aushielt.
Als sie schwieg, stellte er ruhig fest: „Traurigkeit ist kein Zeichen von Schwäche.“
„Wie meinst du das?“ Konsterniert sah sie ihn an und er hielt ihrem Blick stand und antwortete: „Ich meine, dass du weinen solltest, anstatt zu brüllen.“
„Pah! Die Welt hat Heulsusen genug.“ Sie sprang auf und verließ die Küche. Bald darauf hörte Luc die Haustür ins Schloss fallen.

Manon strich ziellos durch die Straßen von Marseille, bis sie den Quai du Port am alten Hafen erreichte. Gegenüber thronte Notre Dame de la Garde über der Stadt, Protz gewordenes Haus eines Glaubens, den sie selbst längst verloren hatte. „Ihr verdammten Blender“, fluchte sie vor sich hin. Ihre Unruhe trieb sie weiter zu den Fähren. „Korsika“ stand dort angeschlagen und auf einmal war der Name Verheißung. Zwölf Stunden später war sie da.

Acht Tage vergingen. Acht Tage, in denen Luc auf Manons Rückkehr wartete und nichts von ihr hörte. Inzwischen sorgte er sich. Auch wenn er ihre Unberechenbarkeit kannte, acht Tage waren selbst für sie ungewöhnlich lang. Dann kam ihr Anruf.
„Luc?“
„Wo bist du?“
„Kommst du zu mir?“
„Wohin?“
„In die Nähe von Ajaccio.“
„Ich bin heute Abend bei dir.“

„Was hast du dir dabei gedacht?“ Manon überhörte den vorwurfsvollen Unterton. Ohne jedes Zeichen von Schuldbewusstsein führte sie Luc zum Mietwagen und fuhr mit ihm in ein kleines Haus, von wo aus sie die Bucht überblicken konnten.
„Ich habe etwas gesucht“, sagte sie dann.
„Zum Teufel nochmal, was denn?
„Das Leben, mon cher, das Leben.“
“Und, hast du es gefunden?”
„Ich bin sieben Tage lang quer über die Insel gewandert, von Ghisonaccia bis hierher. Ja, ich habe es gefunden, in jedem Schritt, den ich ging, in jedem Anstieg, der mir den Atem nahm. Ich fand es im feuchten Nebel und in der glühenden Sonne. Ich fand es im Zug der Vögel und dem Farbenspiel am Nachmittag. Ich sah es auf den schneebedeckten Bergen und beim Anblick des Meeres, das mir das Ziel wies. Der Weg führte meine Gedanken vom Gestern ins Heute, vom Schwarz in die reine Welt um mich herum. Hier ist Leben in mir, meines, verstehst du?“
„Und es wirft keine Schatten mehr“, nickte Luc.
„Ich möchte eine Weile hierbleiben“, erklärte Manon, „bis ich weiß, was ich von nun an mit meinem Leben anfange.“
„Soll ich bei dir bleiben?“
„Nur ein paar Tage, bitte.“
„Wirst du zurückkommen?“
„Ich lasse es dich wissen, sobald ich selbst es weiß.“

Luc sah sie an und schwieg. In den nächsten Tagen bemerkte er, dass Manon sich verändert hatte. Ihre Wut war Gelassenheit gewichen, sie strahlte eine ungeahnte innere Stärke aus. Immer häufiger siegte die Zuversicht über ihre Zweifel.
An ihrem letzten Abend schmiegte sie sich an ihn und sagte: „Luc, wenn ich mir sicher bin, dass ich es allein schaffen kann, komme ich zurück.“
Und so verließ er sie und wartete, bis sie soweit war.

  • Tolle Bilder, die dein Text malt und tiefe sehnsüchtige Verzweiflung, die er mich spüren lässt. Der Schluss stimmt mich sehr nachdenklich. Hat Manon Angst mit ihren Problemen eine Belastung für Luc zu sein und kommt erst dann wieder zurück, wenn sie ihr Leben allein meistern könnte, um sich mit ihm gleichauf zu fühlen?
    Wenn es so ist, warum macht sie es sich so schwer?

  • Ich glaube nicht, dass es mit dem Wusch nach einer Ebenbürtigkeit zu Luc zu tun hat. Es ist der Mut zur Selbstfindung, es gehört sehr viel Mut dazu, weil Manon so viel Geliebtes und Gewohntes zurücklassen muss. Ob sie zu Luc jemals zurückkehrt, bleibt offen. „Wenn ich mir sicher bin, dass ich es allein schaffen kann, komme ich zurück.“ Zwei Menschen, die von einander wissen, dass sie es allein schaffen können, haben eine gute Voraussetzung für eine lange und ehrliche Liebe.

    • Mumpitz, zum letzten Satz deines Kommentars fällt mir ein Spruch ein, den vor nicht allzu langer Zeit jemand ausgesucht hat, um genau das auszudrücken:
      „Das ist das Geheimnis der Liebe, dass sie solche miteinander verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nichts ist und sein kann ohne den anderen.“ (Wilhelm von Schelling)

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