Mikas Traum

Es wurde schon dunkel, als Mika aus der Schwimmhalle trat und sich auf den Weg nach Hause machte. Noch hörte er das Lachen der Mädchen, die in die entgegengesetzte Richtung davoneilten, doch bald darauf verstummten sie. Nun umfing ihn das Nebelschweigen des nahen Flusses. Mika dachte an den Wettkampf am kommenden Sonntag. Seit Monaten schon trainierte er darauf zu; morgens vor der Schule schwamm er eine Stunde, nachmittags zwei, und an den schulfreien Tagen war er zweimal drei Stunden im Wasser. „Kacheln zählen“ nannten sie es, wenn sie Stunde um Stunde ihre Bahnen zogen, angetrieben vom Trainer, dessen Goldmedaille im Schaukasten des Vereinsheimes hing. ‚Einmal so schwimmen wie Jorek, einmal als erster anschlagen, einmal nur!‘

Mika wusste, dass dies nur ein Traum war. Er schwamm nicht schlecht, aber auch nicht gut genug, um auf dem Treppchen zu stehen. „Es muss auch welche geben, die mitschwimmen“, hatte Jorek zu ihm gesagt und dabei die Hand auf seine Schulter gelegt. Das war wohl wahr. Es musste welche geben, die die Plätze ab vier belegten, damit die anderen drei die Medaillen bekommen konnten. Aber vielleicht … eines Tages … vielleicht.

Mika querte die Straße. Es waren kaum noch Autos unterwegs um diese Zeit. Plötzlich hörte er ein dumpfes Geräusch, dann rannte jemand auf ihn zu. Reflexartig drückte sich Mika in einen Hauseingang. Ein Mann hastete an ihm vorbei, ganz in schwarz gekleidet, das Gesicht unter einer Mütze verborgen. Mika sah eine Damentasche in der Hand des Mannes und folgte ihm. ‚Leise‘, dachte er, ‚leise. Er darf mich nicht bemerken.‘ Der Fremde lief zielstrebig zum Park, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Dort zwängte er sich in ein dichtes Gebüsch, während Mika außer Atem hinter einem Baum Schutz suchte und abwartete. Es verging nicht mal eine Minute, dann trat der Mann wieder aus dem Blattwerk hervor. Er hatte die Mütze abgenommen. Mika traute seinen Augen nicht. Es war Jorek.

Mika konnte einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken. Nur einen Augenblick später stand sein Trainer vor ihm.
„Was machst du denn hier?“ Mit jedem Wort wandelte sich Joreks Erstaunen in Wut.
„Ich … ich …“ Stammelnd suchte Mika nach einer Erklärung, doch was hätte er sagen sollen? Dieser Ort lag abseits irgendeines Weges, den er um diese Zeit hätte gehen können, und Jorek wusste es.
„Hör zu, Freundchen, du hast mich hier nicht gesehen, ist das klar?“
Das Nicken des Jungen war dem Trainer nicht genug und so hielt er ihn an beiden Armen fest, sah ihm in die Augen und insistierte: „Ich höre dich nicht. Ist das klar?“
„Ja.“
„Wenn du nur ein Wort sagst, nehme ich dich aus dem Team und erzähle jedem, was für eine Flasche du bist. Und außerdem: Wenn dein Wort gegen meines steht, wem wird man glauben? Dir oder mir?“
Niemand würde die Worte des Trainers anzweifeln, den die ganze Stadt Fähnchen winkend empfangen hatte, als er mit der Goldmedaille heimgekommen war.
„Dir“, flüsterte Mika resigniert.
„Ganz recht, mir. Niemand glaubt einer Flasche wie dir. Und nun hau ab.“
Mika rannte auf dem schnellsten Weg nach Hause. Sicher würden sie sich schon fragen, warum er so spät heim kam. Doch als er die Wohnung erreichte, standen seine Eltern mit den Nachbarn im Hausflur und hatten andere Sorgen.

„…der vierte Überfall in fünf Wochen…“ „… Handwerk legen…“ „… Sanitäter …“ „… sieht nicht gut aus …“ „… Polizei immer zu spät …“ „… Babette …“
„Was ist mit Babette?“, brüllte Mika in die aufgebracht durcheinander redende Menge. Sein Vater, der ihn bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte, drehte sich zu ihm um und versuchte, ruhig mit ihm zu reden. Doch in seiner Stimme klangen Sorge und Wut.
„Babette wurde überfallen. Wir wissen nicht genau, was passiert ist, Jakub fand sie bewusstlos auf dem Gehsteig liegend und rief den Krankenwagen. Sie haben sie gerade weggebracht. Und die Polizei ist immer noch nicht da.“
„Wird sie wieder gesund?“, fragte Mika bangend.
„Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall wird sie bestens versorgt. Sie ist im Zentralkrankenhaus.“
Mika war den Tränen nah. Die liebe, gute Babette, die immer ein paar Kekse für ihn hatte. Mit der er so wunderbar lachen konnte und der er seine Sorgen erzählte. Als er noch klein war, hatte sie oft auf ihn aufgepasst, und noch immer schaute er täglich bei ihr vorbei.
„Komm.“ Mikas Mutter nahm ihn an der Hand und brachte ihn in die Wohnung. „Es wird sicher alles gut“, sagte sie und stellte ihm etwas zu essen hin. Doch Mika brachte keinen Bissen herunter.

Als er am nächsten Morgen die Schwimmhalle betrat, nahm Jorek ihn zur Seite.
„Hast du deine Klappe gehalten?“
„Ja.“
„Mach sie bloß nicht auf, sonst passiert was.“
Mit einem Mal spürte Mika Wut in sich hochsteigen. „Du hast Babette beklaut, die noch nie einem Menschen was getan hat. Du hast sie bewusstlos geschlagen. Wenn ihr was passiert, dann passiert was!“
Jorek lachte hämisch. „Willst du mir drohen? Dein Wort gegen meins, vergiss das nicht! Und wenn du was sagst, passiert dir vielleicht dasselbe wie dieser Babette. Denk mal darüber nach.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ Mika hilflos vor den Umkleiden stehen.

Am Abend hätte Mika nicht mehr sagen können, was er an diesem Tag erlebt hatte. Seine Gedanken kreisten nur noch um Jorek und Babette und sein Tun war mechanisch. Als er nach Hause kam, fragte er zuerst nach Babette.
„Sie liegt noch im künstlichen Koma“, antwortete seine Mutter, „die Ärzte wollen ihr noch einen Tag Ruhe gönnen, bevor sie sie aufwachen lassen.“
„Aber sie wird wieder wach?“
„Ja, es geht ihr soweit gut. Ob sie wieder ganz gesund wird, kann man aber erst beurteilen, wenn sie bei Bewusstsein ist.“
Mika schwieg. ‚Wenn Babette was passiert, dann passiert was.‘ ‚Vielleicht passiert dir dasselbe wie dieser Babette.‘ ‚Dein Wort gegen meins.‘ Seine Gedanken kreisten in einem riesigen Trichter immer schneller und tiefer, bis sie steinschwer den Ausgang fanden und Mika in Ohnmacht fiel.

„Junge, was hast du denn?“, hörte Mika seinen Vater fragen, als er wieder zu sich kam.
„Das Training war anstrengend, wir bereiten uns doch auf den Wettkampf vor.“
„Ich werde mit Jorek reden müssen, dass er euch nicht so hart rannimmt.“
„Nein, ist schon gut, ab Montag wird es ja wieder ruhiger.“
Mikas Vater ließ es dabei bewenden.

Als er noch klein war, hatte Babette ihm von dem guten und den bösen Geheimnissen erzählt. Mika erinnerte sich nicht mehr an die ganze Geschichte, aber dass man die guten Geheimnisse bewahrte und die bösen keine Geheimnisse waren, das wusste er noch.
„Böse Geheimnisse sind Unrecht und Unrecht gehört aus der Welt geschafft“, hatte Babette gesagt.
„Und wie erkenne ich die guten?“, hatte Mika gefragt.
„Du fühlst sie“, war Babettes Antwort gewesen. „Wenn wir beide für deine Eltern ein Weihnachtsgeschenk basteln, dann spürst du schon die Freude deiner Eltern, wenn sie es bekommen. Das fühlt sich gut an. Was sich nicht gut anfühlt, ist kein Geheimnis, das man bewahren muss. Genauso ist es mit den Versprechen. Die, die man von sich aus gab und die sich gut anfühlen, sollte man halten, die, zu denen man gezwungen wurde, sind Unrecht und Unrecht gehört aus der Welt geschafft.“
„Und wie macht man das?“, hatte Mika wissen wollen.
„Indem man es erzählt.“
Damals erschien ihm Babettes Antwort so einfach. Nun aber merkte Mika, wie schwer es sein konnte, ein Unrecht zu erzählen, wenn da ein Kind gegen einen Helden stand.

Der letzte Trainingstag vor dem Wettkampf war gekommen. Die Teilnehmer zogen ruhig ihre Bahnen, nicht bis an die Leistungsgrenze, denn die sollten sie beim Rennen erreichen. Jorek hatte Mika nicht mehr auf den jenen Abend angesprochen. Der Junge konzentrierte sich auf die Technik, die Lage im Wasser, das Eintauchen der Arme, den Beinschlag, die Atmung. In den letzten Tagen war er gedanklich immer wieder die Wende durchgegangen, die sein Schwachpunkt war und bei der er entscheidende Zeit verlor. Er hatte einen Plan und wenn der gelänge …

Vor der Schwimmhalle der Nachbarstadt hingen Flaggen, aufgeregt sammelten sich Besucher und Teilnehmer der Kreismeisterschaften. Spannung lag in der Luft, die Kampfrichter nahmen ihre Plätze ein und die Trainer gaben ihren Schützlingen aufmunternde Worte mit auf den Weg. Manche Hoffnung erlosch bereits in den Vorläufen, doch Mika schaffte es mit der sechstbesten Zeit ins Finale.
Vom Startblock aus blickte er nach vorn, sich seiner sicher, wie er es vorher nie gewesen war. Als der Pfiff ertönte, schnellte er ins Wasser und zog konzentriert seine Bahnen. Die erste Wende, gedanklich automatisiert und ebenso ausgeführt, dann die nächste und noch eine. Als Mika anschlug, war er Zweiter. Er sah seine Eltern auf der Tribüne jubeln, sah die Mädchen aufspringen und ihm zuwinken, sah Jorek erstaunt und doch anerkennend nicken. ‚Wenn du wüsstest‘, dachte Mika, ‚wenn du wüsstest.‘ Als er auf dem Treppchen die Silbermedaille des Vizekreismeisters erhielt, stolz, ein kleiner Held, war er nicht mehr nur ein Mitschwimmer.

„Wenn zwei Menschen etwas erzählen und es widerspricht sich, wem wird man glauben?“, fragte Mika am Abend seinen Vater, der ihn zu Bett brachte.
„Dem, der ehrlich ist“, antwortete der.
„Und wenn der eine ein Kind ist und der andere ein Erwachsener?“
„Immer noch dem von beiden, der ehrlich ist.“
„Und wenn der eine ein kleiner Held ist und der andere ein großer?“
„Mika, worauf willst du hinaus?“
Da erzählte Mika seinem Vater von jenem Abend und dass es Jorek war, der Babette ausgeraubt hatte. „… und ich habe gedacht, wenn ich auch ein Held bin, und sei es ein kleiner, dann wiegt Joreks Wort nicht mehr so schwer gegen meins“, beendete er die Erlebnisse der letzten Tage.
„Junge, Junge …“ Mehr brachte Mikas Vater erst einmal nicht hervor und es dauerte eine Viertelstunde, bevor er die Polizei anrief.

In dem Gebüsch, das Mika beschrieben hatte, fand man Abdrücke von Joreks Schuhen und in seiner Wohnung Diebesgut. Jorek wurde verhaftet. Ihn erwartete eine längere Haftstrafe.

Als Babette wieder gesund zuhause war und Mika ihr alles erzählte, kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Mal schüttelte sie den Kopf, mal runzelte sie die Stirn und am Ende fragte sie: „Was hat dich denn nun zum Helden gemacht, Mika?“
„Ich bin Vizekreismeister!“, antwortete er stolz.
„Das sind einige“, stellte Babette fest. Mika guckte enttäuscht und so fuhr sie fort: „Keine Medaille macht dich zum Helden, sondern deine Ehrlichkeit und dein Mut. Dass du von Jorek erzählt hast, obwohl er dir drohte, das ist es, was einen großen Helden ausmacht.“
Mika wurde verlegen. „Du hast gesagt, man schafft ein Unrecht aus der Welt, indem man es erzählt“, antwortete er.
„Ja, und du hast es getan“, lächelte sie.
Dann nahm sie die Keksdose, hielt sie Mika hin und freute sich am Glanz in seinen Augen, als er hineingriff.

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