Abgrund oder Turm

„Halt mich!“, schrie er.
„Ich halte dich!“, gab sie ihm Zuversicht.
Die Szenerie unwirklich. Er hing über dem Abgrund, beide Hände nach oben gestreckt, wo sie bäuchlings lag und ihn hielt. Wie lange schon, war unwesentlich. Wichtiger war die Frage, wie lange sie so noch aushalten konnten.

„Lass mich los, sonst stürzt du mit mir hinab!“, schrie er.
„Nein!“, widersprach sie.
Sie umfassten gegenseitig ihre Handgelenke. „Siehst du den Turm?“, fragte sie und deutete über ihre rechte Schulter. „Siehst du ihn? Du wolltest mit mir hinaufklettern und über Land und Meer sehen. Schick mich bloß nicht alleine da hoch!“
Er sah den Turm, der ihm vertraut war. Ja! Mit ihr dort oben zu stehen und ihr zu zeigen, was er liebte, hatte er ihr versprochen. Doch nun hing er hier, in aussichtsloser Lage.

„Gib dich nicht auf!“, brüllte sie ihn an. Sie war genervt. Er ließ sich hängen, als wäre er ein Kartoffelsack. Ein klein wenig Hilfe nur von ihm, und sie könnten es schaffen. Würde er doch wenigstens mit dem Fuß nach einem Halt suchen. Würde er sich nicht so schwer machen. Würde er doch noch daran glauben, dass sie es auf den Turm schaffen konnten. Stattdessen sprach er vom Loslassen. Verdammter Kerl.

Er sah ihr ins Gesicht. Sie war so stark, er hatte sie unterschätzt. Oder war es ihre Sturheit, die sie ihn halten ließ? Ihre Liebe? Es wäre einfacher, sie ließe los. Ein paar Sekunden freier Fall und – vorbei. Dann wäre sie den Kartoffelsack los. Für den Turm würde sich schon ein anderer finden …
Das war gelogen und er wusste es. Er wusste, dass sie niemals auf diesem Turm stehen würde, wenn nicht mit ihm.

„Du willst immer noch da hoch?“ schrie er und deutete hinüber.
„Ja, verdammt.“

Als er mit dem Fuß nach Halt suchte, hatte er sich entschieden.

  • Eine wunderschöne Parabel über die Liebe, über Vertrauen und die Kraft, die man daraus schöpfen kann. Selbst wenn er es nicht schaffte, könnte sie so eines Tages wieder glücklich sein.

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