Nicht in unserer Hand

In den Bergen jenseits des großen Flusses lebte der alte Lehrer Chén Liang. Seine Hütte lag oberhalb des Nebeldorfes. Tag für Tag nahmen seine Schüler den beschwerlichen Aufstieg in Kauf. Chén Liang hatte den Ort mit Bedacht gewählt. Drei mal tausend Stufen galt es zu erklimmen, vor langer Zeit in den Stein geschlagen. Kraft, Ausdauer und Geduld schenkten sie jenen, die sie bezwangen.

Chén Liang lehrte seine Schüler das alte Wissen. Kampfkunst und Literatur brachte er ihnen bei, Mathematik und Medizin, und auch die Lehren der Weisen. Wann immer einer seiner Schüler einen Rat brauchte, wusste Chén Liang ihm zu helfen. Dabei sagte er nie „tue dies“ oder „tue jenes“, sondern las eine Geschichte aus den alten Büchern vor. Manchmal wurde er auch nur ganz still, schwieg eine Weile und ließ den Schüler seinen Weg durch eigene Gedanken finden.

Eines Tages kam ein junger Mann zu ihm, verbeugte sich und sprach: „Meister Chén, Ihr habt mir das alte Wissen beigebracht und die Lehren der Weisen. Dennoch kann ich meinen Weg nicht finden. Mein Vater suchte mir ein Mädchen, das ich zur Frau nehmen soll, er wählte meinen Beruf, den ich ausübe und er gebot mir, im Einklang mit Himmel und Erde das Leben zu ehren. Ich achte meinen Vater und ich achte Euch und Eure Lehre. Mein Leben ist Harmonie und ich vermisste nichts. Nun aber traf ich im Tal der Kraniche eine Frau und erkannte sie.“

Der junge Mann wartete auf eine Reaktion des Lehrers, doch dieser saß mit unbewegtem Gesicht auf seinem Kissen und schwieg. So fuhr er fort: „Mein Denken gilt nicht mehr meinem Weg, sondern ihrem Wohlergehen. Eure Lehren und die meines Vaters verblassen hinter meinem Gefühl für die Frau meines Herzens.“

Noch immer sagte der Lehrer kein Wort. Da seufzte der junge Mann und sprach: „Ihr sagtet damals, ich solle den Weg ohne Weg gehen, den Weg, der unter meinen eigenen Füßen entsteht, indem ich ihn gehe. Doch ich weiß keinen Weg mehr.“

Da erzählte Chén Liang eine Geschichte: „Als Liu Bao von seinem Meister schied, stand er mit offenen Händen vor ihm. Der Meister legte alles hinein, was Liu Bao in der Zeit bei ihm erworben hatte: Das alte Wissen, die Ehrfurcht vor dem Leben, die Kunst, sich zu verteidigen und die Sprachfertigkeit. Dann sagte er zu ihm: ‚Liu Bao, du hältst nun alles in der Hand, um deinen Weg zu finden. Nutze meine Gaben mit Weisheit.‘ Liu Bao verbeugte sich in Dankbarkeit und wollte schon gehen, da gab ihm der Meister die Liebe ins Herz. Er bemerkte den erstaunten Blick Liu Baos und sagte: ‚Was immer du tust, entscheidest du selbst. Doch die Liebe liegt nicht in deiner Hand.‘ Mit diesen Worten verabschiedete er ihn.“

Als Chén Liang seine Geschichte beendete hatte, sprang der junge Mann auf. „Heißt das, ich kann mich nicht gegen meine Gefühle für die Frau meines Herzens wehren? Heißt das, ich werde meinen Weg finden, wenn ich den wähle, der zu ihr führt?“

Doch Chén Liang sagte kein weiteres Wort.

  • Ein sehr schönes Bild für die Freiheit der Liebe. Du bist eine Märchenerzählerin.

    • Freut mich, dass es dir gefällt. Ich wage mich ja erst seit Anfang des Jahres an Fantasy-Stoff und Märchenähnliches heran.

  • Hm. Doch manchmal halten wir die Liebe in Händen und erfassen sie nicht.
    Ich mag die Geschichte.
    Anscheinend haben wir beide es grade mit Fantasy-Geschichten 🙂
    Ich trau mich da auch noch nicht so richtig ran. Aber einfach mal fließen lassen, nö?

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