Das Schwert des Richters
Im Reich des Zauberers lebte ein junger Schmied. Als Sohn eines Bauern zur Zeit des schwarzen Magiers geboren, hatte er so viel Unrecht mit ansehen müssen, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als Richter zu werden. So ging er zum Weisen und sprach: „Herr, ich möchte Recht sprechen, auf dass Unrecht gesühnt werde. Sage mir, was ich tun muss, um ein Richter zu sein.“
Der Weise nickte und antwortete: „Dein Wunsch ist stark, deine Arme nicht minder, doch Stärke allein macht dich nicht zu einem gerechten Mann. Sage mir, was kannst du?“
„Ich bin der Sohn eines Bauern und Schmied. Von meinem Vater lernte ich, den Himmel zu lesen, den Boden zu achten und die Früchte zu nähren. Mein Meister lehrte mich den Umgang mit Feuer und Stahl.“
Der Weise überlegte eine Weile und sprach: „So gehe hin, schmiede ein Schwert und bringe es mir.“
Der junge Mann wollte zunächst widersprechen, doch der Blick des Weisen ließ keinen Widerspruch zu und so kehrte er zur Schmiede zurück. Harte Arbeit lag vor ihm und der Erfolg war nicht gewiss. Ein falscher Schlag, ein falsches Feuer und das Werk wäre verdorben und er müsste neu beginnen. So brachte er zunächst den Göttern ein Opfer dar und arbeitete dann zwei Neumonde lang. Er schmiedete die Klinge, von einer Hohlkehle durchzogen, schliff beidseits Schneiden, brachte die Parierstange an, fertigte das Griffholz, umwickelte es mit Leder und vollendete das Schwert mit dem Knauf. Dann begann er die Arbeit an der Scheide, die er ebenso sorgfältig ausführte. Als er sein Werk vollendet hatte, brachte er es zum Weisen und übergab es ihm. „Siehe Herr, ich habe das Schwert geschmiedet, wie du es verlangt hast.“
Der Weise betrachtete das Schwert und erkannte die besondere Sorgfalt, mit der der junge Mann es gefertigt hatte. Er nickte und sprach „Möge es dir stets das rechte Urteil schenken.“ Mit diesen Worten gab er dem jungen Mann das Schwert zurück. Dieser sah ihn ratlos an. „Aber Herr, wie soll mein Schwert mich lehren, was recht ist?“ „Im Ort liegt die Wahrheit“, antwortete der Weise und ging fort.
‚Im Ort liegt die Wahrheit.‘ Die Worte setzten sich in den Gedanken des jungen Mannes fest. Der Ort war die Spitze des Schwertes, doch wie sollte man dort die Wahrheit finden? Die Spitze des Schwertes taugte zu nichts als zum Töten. Der junge Mann bereute, den Weisen um Hilfe gebeten zu haben, und beschloss, einen erfahrenen Richter um Rat zu fragen. So machte er sich auf den Weg in die größte Stadt des Reiches, stellte sich beim obersten Richter vor und sagte: „Herr, ich möchte Recht sprechen, auf dass Unrecht gesühnt werde. Sage mir, was ich tun muss, um ein Richter zu sein.“
Der oberste Richter sah den jungen Mann an und sprach: „Im Ort liegt die Wahrheit. Bedenke dies, und du wirst ein guter Richter sein.“
„Aber die Spitze meines Schwertes taugt zu nichts als zum Töten“, antwortete der junge Mann.
„Dein Schwert ist das eines Richters, nicht das eines Kriegers. Geh und kehre erst zurück, wenn du erkannt hast, warum im Ort die Wahrheit liegt.“
Der junge Mann suche sich ein Zimmer für die Nacht, doch er fand keinen Schlaf. So setzte er sich auf, nahm das Schwert aus der Scheide, legte es vor sich und starrte es an. Die Stunden zerrannen, er wurde müde und bald drehte sich das Schwert vor seinen Augen und die Worte in seinem Sinn. Drei Tage harrte er so aus. Er aß nicht, er trank nicht, und am Ende des dritten Tages fiel er in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen darauf trat er erneut vor den obersten Richter und sprach: „Herr, siehe mein Schwert: Sein Knauf ist der Ursprung des Geschehens, am Heft halte ich das Recht in der Hand. Die Parierstange bewahre mich vor trübem Blick. Durch die Hohlkehle fließt der Lauf der Dinge, die linke Schneide trägt die Argumente des Klägers, die rechte die des Beschuldigten. Im Ort fließt alles zusammen, das Geschehen und das Erleben des einen und des anderen. Dort allein liegt die Wahrheit. Kein Urteil möge ich sprechen, ohne diese drei zu bedenken: Was geschah und was der eine und der andere sah.“
Da erhob sich der oberste Richter und nahm den jungen Mann in seinen Kreis auf. Von da an sprach dieser Recht sein Leben lang und war geachtet im ganzen Reich und darüber hinaus.
Mumpitz
19. Jun 2011
Wieder eine schöne Parabel,toll geschrieben! Nur wie der junge Mann auf die Lösung des Rätsels gekommen ist, kann ich nicht so richtig nachvollziehen. Nur durch Nachdenken diese Weisheit zu erkennen, halte ich nicht für plausibel. Er müsste mit dem Schwert in die Welt ziehen und drei Erlebnisse haben, die ihm die Bedeutung des Ortes, der Hohlkehle und der beiden Schneiden begreiflich machen.
Ich mag deine Geschichten sehr, sie sind sprachlich so klar und lassen einen schnell eintauchen.
Songline
19. Jun 2011
Lieben Dank für deine Rückmeldung. Mmh. Wenn ich den Protagonisten noch in die Welt schicke, wird der Text wesentlich länger. Vielleicht sollte ich ihn träumen lassen, wenn er schon mal in Trance ist? Ich denk drüber nach.