Ein Fremder ohne Namen

… Aber das war nichts, was Johnny Saint-Clair schocken konnte. Dafür hatte der Dämonenjäger schon zu viel erlebt. Kalt lächelnd zückte er seine Beretta, legte an und feuerte eine Silberkugel auf den Blutsauger ab. Getroffen griff sich der Vampir an die Brust, ein tierisches Röcheln entfloh seinem weit aufgerissenen Rachen, dann schlug er lang hin, wand sich unter Krämpfen am Boden und zerbröckelte leise raschelnd zu Staub.

Grafik: Tobias Hoeft

Sehr schön! Jason Darkness setzte einen Punkt und beendete damit ein weiteres Kapitel seines neuesten Schmökers. Zufrieden lehnte er sich zurück. Seit nunmehr 38 Jahren schrieb er Heftromane, vornehmlich Horror, und seine Bilanz war Ehrfurcht gebietend. Besonders, was seine Hauptserie anging: 2885 Bände in der Erstauflage, 776 Taschenbücher, 8 Paperbacks. Jawohl, er durfte von sich behaupten, das Gruselgenre bereichert, es mitgeprägt zu haben.
Tock! Tock, Tock! Es klopfte an der Haustür. Und zwar so laut, dass Jason es problemlos in seinem Arbeitszimmer zwei Flure weiter hören konnte. Wer kommt denn so spät noch vorbei, dachte er stirnrunzelnd, erhob sich aus seinem Bürostuhl und ging zum Vordereingang.

„Wer ist da?“, rief er absichtlich schroff. Die Antwort fiel ganz anders aus, als er erwartet hatte. Krachend flog die Tür auf und blieb mit einem hässlichen Kratschen schief in den Angeln hängen. Ein abgesprengtes Scharnier traf Jason am Kopf. Er schrie ob des Schmerzes auf und kam ins Wanken. Nur aus den Augenwinkeln nahm er die baumlange Gestalt wahr, die sich böse grinsend ein paar Holzspäne aus den Klamotten klopfte. Der kurze Blick reichte allerdings aus, um Jason zu elektrisieren. Er verdrängte den Schmerz und schnappte sich den gusseisernen Feuerhaken, der für Not- und Überfälle stets bereit lag. Er lebte schließlich allein am Rande des Dorfes, kam langsam in die Jahre und gehörte zu den Besserverdienern im Lande. Insofern war er quasi ein Musteropfer für Einbrecher! Weil der Türzertrümmerer keinerlei Anstalten machte, die Wohnung zu betreten, hatte Jason ausreichend Gelegenheit, ihn zu mustern. Was für ein Ekeltyp, durchfuhr es ihn, an dem konnten sich Schönheitschirurgen ein Leben lang abarbeiten und wurden doch nicht fertig. Das Erste, was auffiel, war die krankhafte Blässe. Der Kerl war bleicher als Johnny Depp in „Dead Man“, und bei diesem Film handelte es sich um eine Schwarzweißproduktion. Für Farbe sorgten nur ein paar krustige Pockennarben, die auf morbide Weise gut zu den Lippen passten, die wie vertrocknete Regenwürmer aussahen. Eingehüllt war die aufgeschossene Erscheinung in verrottete Stofffetzen, die man nicht mal mehr als „Lumpen“ bezeichnen mochte. Alles an dem Mann starrte vor Dreck – die Kleidung, die Fingernägel, die öligen, straff zurückgekämmten Haare. Am Abstoßendsten waren jedoch die pupillenlosen schwarzen Augen, von denen ein trüber Glanz, aber nicht die Spur von Gefühl ausging. Halt, Kommando zurück! Die riesigen Fangzähne, die der just in diesem Moment sein Maul aufreißende Kraftprotz entblößte, waren noch viel Furcht erregender als die Glupscher. Ach, du grüne Neune, dachte Jason, das ist einer von diesen Freaks, die sich für Vampire halten, deren Verhalten nachahmen und sich nach der Mode ihre dämonischen Idole aufbrezeln – komplett mit implantierten Hauern, aufgeklebten Krallenfingernägeln und viel Theaterschminke. Und mit letzterem hatte der Fremde wahrlich nicht gegeizt, dem aparten Wasserleichenteint nach zu urteilen. Jason packte den Feuerhaken fester. Dem Irren werde ich eins überbraten, dass er den gesamten Jahresbestand von Yves Saint-Laurents Körper- und Schönheitspflegesortiment aufkaufen muss, um nachher noch halbwegs menschlich auszusehen, geiferte er in Gedanken. Grimmig betastete er seine Beule. Er blutete, und die von der Metallangel getroffene Stelle war bereits stark angeschwollen. In den pechschwarzen Augenklumpen des Einbrechers regte sich plötzlich etwas. Belustigung lag auf einmal in ihnen … und Verachtung.
„Hi, ich bin’s“, sagte das Bleichgesicht mit einer Stimme, die klang, als würde ein Spaten in die Erde getrieben.
„Wer ist ‚ich‘?“, fragte Jason zurück, der sich noch nicht entschieden hatte, welcher der vier in ihm wogenden Empfindungen er den Vorzug geben wollte. Er fühlte Furcht, Wut, Verblüffung und Neugier. Eine anregende Mischung.
„Na, ich! Der Vampir aus dem Schundroman, den Du gerade verbrochen hast.“
„Äääh…“
„Der, dem Du noch nicht einmal einen Namen gegeben hast, geschweige denn einen Hintergrund. Ah, Moment! Ich will Dir nicht Unrecht tun. Mit einem Attribut hast Du mich schon noch versehen. Räudig! Der räudige Vampir!“
Jason war jetzt ehrlich baff. Woher wusste dieser Wüstling, was er eben erst zu Papier gebracht hatte? „Na ja, uhm, sexy wäre aber auch das falsche Wort gewesen“, rechtfertigte er sich.
Der Fremde ohne Namen kicherte. „Was ist? Willst Du mich nicht hereinbitten? Du weißt doch, Vampiren muss man Eintritt gewähren, damit’s ein blutrauschendes Tête-à-tête wird.“
„He, das hättest Du wohl gerne.“ Jason entschloss sich, das Spielchen mitzumachen. Konnte ganz interessant werden. „Ich bin doch nicht bescheuert. Warum sollte ich meinem Killer den Weg ebnen?“
Der Fremde kicherte erneut und trat einfach über die Schwelle.
„Pech für Dich! Ist nur so ein Volksglaube, das mit der Eintrittserlaubnis. Ein Ammenmärchen, wie so vieles andere auch.“
„Was denn zum Beispiel?“
„Knoblauchallergie, Spiegelbildabsenz, dass wir nicht in der Lage seien, fließende Gewässer zu überqueren …“
„Sonnenlicht…?“
„Wird schlimmer gemacht, als es tatsächlich ist.“
Jason wurde übel, als ihm der angebliche Vampir zu nahe kam. Der Typ roch genauso schlimm, wie er aussah. Zum Teufel, es würde Tage dauern, bis der Modermief wieder aus der Wohnung raus war. Die Fäulnis ließ seinen Magen rebellieren, aber dafür hatte Jason einen Logenblick auf das Raubtiergebiss. Ihm schauderte. Er hatte mal im Zoo eine neun Meter lange Anakonda bewundert, aber selbst deren Lefzen waren nichts gegen diese Reißer. Die beiden überdimensionierten Eckzähne bedeckte ein dünner, olivfarbener Film. Wahrscheinlich ein Giftsekret, sinnierte Jason, das dafür sorgt, dass das Blut des Opfers trinkbar bleibt und nicht klumpt. Tja nun, scheußlich, aber bange machen gilt bekanntlich nicht.
„Also, was wollen Sie?!“, raunzte er den Eindringling an, wobei er sich hinstellte wie ein Baseballspieler beim Abschlag.
„Was ich will? Kann ich Dir sagen. Dir Bescheid stoßen. Uns langt’s!“
„Uns? Wer ist ‚uns‘? Und was genau geht Ihnen gegen den Strich?“
„Die Art, wie wir Vampire heutzutage dargestellt werden. So völlig ohne Verve, als bloße Kinderschrecks. Schießbudenfiguren, Kanonenfutter. So kann das keinesfalls weiter gehen, und das wird’s auch nicht. Mit der Mythosverramschung ist jetzt Schluss! WIR lassen UNS das nicht mehr länger gefallen.“
„Hm, schön, bitte. Aber was habe ich damit zu tun?“
Diese unverschämte Frage brachte Jason die Mutter aller Ohrfeigen ein. Der Schlag trieb ihn quer durch die Diele. Lang schlug er zu Boden. Jetzt blutete er auch noch aus der Lippe.
„Damit Du nicht glaubst, Du träumst“, fauchte ihm der Rowdy an. „Was Du damit zu tun hast?! Weißt Du eigentlich, was Du Dir in den letzten Jahren für einen Scheiß zusammengeschrieben hast? DU bist einer von denen, die UNS diesen Ruf als Luschen eingebrockt haben.“
„Aber…“
„Nichts aber! Nimm doch zum Beispiel mal deinen letzten Erguss: ‚… zerbröckelte leise raschelnd zu Staub‘. Immer derselbe Schmus! Seit Jahrzehnten! Weißt Du, wie viele von uns inzwischen das gleiche staubige Schicksal haben erdulden müssen? Wir gehen mittlerweile in die Millionen. Aus unseren Überresten kann man bald einen neuen Planeten zusammenpappen. Verflucht, dass wir in Euren Geschichten nicht überdauern, stört uns ja gar nicht. Damit haben wir uns abgefunden. Dass wir wie am Fließband auf nicht einmal zwei Zeilen verbraten werden, das ist es, was uns stinkt. Vor allem, was die Sekundärliteratur angeht. Dort geht’s ja zu wie bei Bob Hope. Ein Schuss und tausend Tote. Tausend Untote!“
„Hmja, stimmt schon. Ihr seid eben schon zu lange im Geschäft.“
„Rede Dich nicht raus!“, schnitt der empörte Vampir seinem nicht wirklichen Gesprächspartner das Wort ab. „Euch fehlt die Fantasie! Ich kenne Dich genau. Na, jedenfalls besser, als du dir träumen lässt, Paps. Brauchst gar nicht so zweiflerisch dreinschauen. Hier…“, er tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn des Autors, „… von hier komme ich her. In diesem Brutkasten bin ich entstanden. Ich bin dein geistiges Geschöpf. Jason, glaube es mir. Oder soll ich lieber Johannes sagen? Zwischen Vater und Sohn bedarf es doch eigentlich keiner Pseudonyme.“
Jason bekam einen trockenen Hals. Die Verblüffung übernahm im Emotionsvierkampf die Führung.
„Früher“, fuhr der unheimliche Besucher fort und seine schmatzende Keuchhustenstimme klang plötzlich wehmütig, „da hat ein einziger von uns einen ganzen Roman oder Film getragen, und die Leute haben sich vom ersten bis zum letzten Augenblick geängstigt. Aber dann habt Ihr die Verniedlichungswelle losgetreten: Vampy, der kleine Vampir! Graf Duckula! Zu Anfang ging es ja noch. Da war es bloß die zwangsläufige Einfriedung in die Popkultur. Vampirella und Blacula hatten sogar noch Klasse. Selbst Herbert strahlte eine gewisse Erhabenheit aus.“
„Herbert?“
„Du weißt schon. Der schwule Blutsauger im Nachthemd aus ‚Tanz der Vampire‘.“
„Ah ja, ich erinnere mich.“
„Und heute müssen wir uns von jedem dahergelaufenen Zauberlehrling platt machen lassen. Sogar die Ghoule lachen schon über uns. Ein Bannspruch oder ’ne Silberkugel, und schon rieselt die Asche. Entwürdigend.“
Mit einem Mal fühlte sich Jason richtig mies. Echt oder nicht, der Vampir vor ihm hatte Recht. „Ich gelobe Besserung“, sprach er feierlich.
„Das rate ich Dir auch“, erwiderte der Nosferatu knurrend. „Sonst komme ich wieder. Dann zapf ich Dir Dein Blut vollständig ab, mische es mit Pernod, Kahlúa und Gin zu einem Nightwatch-Spezial und schlürfe ihn auf ex! Salute!“ Er bohrte seinen Finger in Jasons blutende Wunde, leckte ihn genüsslich ab und verschwand unter dröhnendem Gelächter in der Nacht.

ENDE

  • Hehe. Ich liebe deine Geschichten, das weißt du. Und mit den Illustrationen dabei sind sie nochmal so schön.

  • Sehr nett, Harry! Kleine Kritik: Die Beschreibungen des Unholds und der Situation könnten etwas straffer kommen, die Fantasie des Lesers tut beim Anstoß doch sowieso sein Übriges.
    Ansonsten wie immer eine schöne Idee und eine wortschatzgewaltige Sprache mit Witz und Augenzwinkern!

    • Hmja, könnte wirklich etwas straffer kommen. Werde mich beizeiten mal an die Story dransetzen und sie überarbeiten. Danke für die Anmerkung!

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