fridas Lesetipp: Stephen King „Der Anschlag“

Zeitreisen, Paralleluniversen, Existenzen in verschiedenen Zeitlinien: Die Faszination an Möglichkeiten paralleler Existenzen außerhalb der eigenen Zeitlinie ist nach wie vor ungebrochen. Mit „Der Anschlag“ nimmt nun Stephen King seine Leser mit auf eine Zeitreise in die USA der Jahre 1958 bis 1963.

Der Englischlehrer Jake Epping wird ausgewählt, das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern, um den Lauf der Geschichte positiv zu verändern. Der Zugang zur Vergangenheit ist verborgen im Diner-Alutrailer seines Freundes Al, der, weil schwer krebskrank, selbst die Tat nicht mehr ausführen kann, jedoch besessen von der Idee ist.

Jake, der sich erst widerstrebend auf das Unternehmen einlässt, findet zunehmend Gefallen daran, insbesondere auch daran, dass er Dinge in der Vergangenheit tatsächlich ändern kann. Und während Epping sich in Texas an die Fersen von Lee Harvey Oswald heftet und gleichzeitig als George Amberson eine verdeckte Kleinstadt-Lehrerexistenz – eine neue Liebe in Gestalt der Schulbibliothekarin Sadie inklusive – führt, entfaltet King ein äußerst lebendiges Panoptikum jener Jahre und fängt das typische Klima jener Zeit sehr schön ein: Rock’n’Roll und Petticoat, Autokino und Autos mit Heckflossen, Family Diner und Kleinstadt-Varieté.

Aber das alles ist auch ein wenig zu brav, und die Moralvorstellungen von wenigen überschatten noch das Liebesleben unverheirateter Erwachsener. Schwarze Menschen sind die Fußabtreter der Gesellschaft des institutionalisierten Rassismus, auf denen noch die armen Weißen herumtrampeln dürfen. John F. Kennedy ist dagegen der Hoffnungsträger der sich modernisierenden und liberalisierenden Teile der Gesellschaft.

Für Jake ist Texas Himmel und Hölle zugleich. Himmel, weil er in Sadie eine ebenbürtige Partnerin findet, Hölle, weil er Lee Harvey Oswald aufhalten muss. Oswald ist ein mit Minderwertigkeitskomplexen behafteter, egozentrischer Unsympath, ein Verlierer, der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt und darüber hinaus seine Frau misshandelt. Je näher Jake den Oswalds kommt, desto mehr identifiziert er sich mit seiner Welten-Retter-Aufgabe.

Zum großen show down kommt es am Tag des Attentats, dem 22.11.1963 (der Originaltitel 11/22/63 verweist auf dieses Datum) im Schulbuchmagazin (der Ort, von dem Oswald aus JFK erschoss). Aber die Vergangenheit will sich nicht ändern lassen. Immer wieder verweist der Roman auf den „Schmetterlingseffekt“, nach dem auch nur geringfügig veränderte Anfangsbedingungen auf langfristige Sicht zu gänzlich anderen Entwicklungen führen können.

Da die Vergangenheit sich nicht ändern lassen will, tritt sie als Gegner mit allen Mitteln gegen Jake Epping an. Es gibt zwar kein dingliches „Böse“, aber je mehr Jake aktiv eingreift, desto mehr häufen sich schlimme Ereignisse. Am Ende muss Jake erkennen, dass er mit der einen guten Tat in der Folge mindestens tausend böse Ereignisse ausgelöst hat. Dennoch lässt King seinen Roman versöhnlich enden. Jake drückt sozusagen den „restart button“, um die Dinge wieder an die richtige Stelle zu rücken.

Insgesamt ist King mit „Der Anschlag“ ein in sich rundes Werk gelungen, das an keiner Stelle uninteressant oder langweilig ist, wenn auch Kürzungen an der einen oder anderen Stelle dem Roman zusätzlich gut getan hätten. Jake, die Hauptfigur und zugleich der Ich-Erzähler, ist ein netter Typ, dem man die guten Absichten abnimmt und dem man sein zweites Lebensglück in jenem anderen Leben wünscht, auch wenn er im Inneren trotz aller Anpassung Kind seiner Zeit, also im Hier und Jetzt, bleibt. Sympathisch ist mir außerdem, dass Jake nie seine liberalen und aufgeklärten Überzeugungen aufgibt.

Und Stephen King wäre nicht Stephen King, wenn er nicht – wie öfters in seinen Romanen – auch hier Bezüge zu anderen Werken herstellt. So findet der Leser u.a. Verweise auf die Romane „Es“ und „Christine“, und auch auf bekannte Schauplätze (Castle Rock, Derry).

Wie man im Nachwort erfährt, ist der Autor kein Anhänger der Theorie, dass JFK einer Verschwörung zum Opfer gefallen ist. Oswald ist für ihn ein Alleintäter, der allein aus egoistischen Motiven heraus handelte. Ob mit einem lebenden JFK alles anders bzw. besser geworden wäre, müssen wir dem Reich der Spekulation überlassen. King entwirft jedenfalls im Schlussteil des Romans seine ganz eigene Vision von einer Welt, in der JFK weitergelebt hätte.

„Der Anschlag“ (Originaltitel „11/22/63“) von Stephen King, Originalausgabe erschienen 2011, dt. erschienen 2012, ca. 1041 Seiten

© frida 2012

  • Hört sich sehr gut an, mich schrecken die über 1000 Seiten ein bisschen ab. Wenn ich das Abends im Bett vor dem Schlafengehen lese, bin ich zu lange damit beschäftigt.
    Ich mag deine Rezensionen!

  • Ich mag die Rezension auch, aber weniger Stephen King. Für mich sind seine Werke arg redundant. Fast immer geht es um Seuchen, das US-Normalbürgertum und Maine.

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