Herbst des Erwachens

Die Sonne liess die Blätter golden scheinen. Der Wind rauschte durch sie hindurch und einige davon segelten auf den Boden. Kinder spielten im Park und liessen bunte Drachen steigen. Diana sass auf einer Parkbank und fütterte gedankenversunken ein paar Spatzen mit Brot. Vor zwei Wochen starb ihre grosse Liebe Ed durch einen Verkehrsunfall. Sie erinnerte sich an die schöne Zeit, die sie zusammen hatten, und an die Briefe, die sie in der Schublade seines Schreibtisches fand. Die Briefe waren nicht von ihr, sondern von einer Frau namens Evelyne. Sie las jeden einzelnen Brief und weinte. Doch sie weinte nicht, weil sie sich betrogen fühlte, sie weinte, weil sie dachte, dass niemand anderes Ed so lieben konnte. Die Briefe waren alle an ein Postfach adressiert. Diana fand den Schlüssel dazu und fand den letzten Brief, abgeschickt vor drei Tagen. Sie öffnete ihre Handtasche und zog den Brief hervor. Langsam riss sie den Umschlag auf und starrte auf die Zeilen. Zögernd fing sie an diese zu lesen.

Mein geliebter Ed,
Heute bin ich spazieren gegangen, vorbei an einem Dahlienfeld. Dahlien, erinnern mich an dich. Sie vermitteln mir ein Gefühl von inniger Liebe, so wie der deinen. Ich wünsche mir dich, wie du vor mir stehst, mich berührst und liebkost. Spüre, wie du mir über meine Haare streichst und mir zart ins Ohr flüsterst, wie sehr du mich liebst.
Das Atmen fällt mir schwer, denn du fehlst mir bei jedem Atemzug mehr.
Ich freue mich auf unser Treffen.
In ewiger Liebe
Evelyne

Eine drückende Leere grub sich in Dianas Magen. Sie drehte den Umschlag um. Die Anschrift von Evelyne stand darauf, wie immer. Sie überlegte, ob sie einfach zu Evelyne gehen sollte. Sie wusste ja nicht, dass Ed tot war.
Diana stand auf und lief quer über die Wiese, vorbei an den spielenden Kindern, hinaus aus dem Park zu ihrem Wagen. Sie fuhr eine halbe Stunde auf das Land, wo weit und breit keine Hochhäuser standen und nur Familienhäuser mit Garten waren. Sie bog in eine kleine Strasse ein und parkte vor dem Haus Nummer acht.
Ein schwarzer Labrador Redriever lag auf der Veranda vor der Haustüre. Als Diana aussteigen wollte, ging die Haustüre auf und eine junge blonde Frau kam heraus und streichelte den Hund und legte ihm die Leine an. Sie blickte in die Richtung von Diana und ging auf sie zu. „ Kann ich ihnen helfen?“, frage sie Diana mit einem wunderschönen Lächeln. Diana zögerte und sagte: „ ich… ich habe etwas für sie.“ Sie streckte ihr den
geöffneten Brief hin. Die Blonde Frau musterte den Brief. „ Seltsam…“, sagte sie zu Diana. „Was ist seltsam?“
„ Der Brief ist von meiner Mutter, Evelyne. Sie ist vor drei Tagen gestorben.“ Zusammen gingen sie die Strasse entlang, dabei stellte sich Diana vor und erklärte, dass Ed gestorben sei und sie dutzende Briefe von Evelyne gefunden hätte.
„Meine Mutter erzählte mir, dass sie Ed von der Uni kennen. Sie waren sich tief verbunden. Ich glaube, es war
mehr als nur Liebe. Ich denke, sie waren für einander geschaffen. Entschuldigen Sie, wenn ich dies so sage, doch sie hatte gehofft, dass er sie eines Tages heiraten würde, doch er lernte jemand anderes kennen, das waren Sie.
Als sie wusste, dass sie keine Change bei ihm hatte, fing sie an, ihm Briefe zu schreiben. Er antwortete ihr immer und als er heiratete und weg zog, richtete er ein Postfach ein, wohin sie ihm immer schreiben konnte. Sie fand seine Wohnadresse raus und zog in seine Nähe, doch sie wartete auf ihn, ihr ganzes Leben lang. Vor ein paar Monaten erfuhr sie, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt sei. Als sie merkte, dass es zu Ende geht, wartete sie auf ihn und passte ihn ab, früh morgens. Nach fast dreissig Jahren trafen sie sich wieder. Er erkannte sie sofort. Sie gingen in ein Café und starrten sich eine ganze Weile nur in die Augen. Tief im Inneren wusste er auf einen Schlag all ihre Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste, ohne je ein Wort miteinander geredet zu haben. Doch als sie ihm von der Krankheit erzählte, stand er auf und ging weinend hinaus. Sie erzählte mir, dass es das schönste Erlebnis war ihn wieder zu sehen. Und das sie nun von dieser Welt gehen könne. Die letzten zwei Wochen redete sie nur noch davon bis sie ihren Frieden fand und starb.“
Schweigend gingen sie neben einander her. „Hat sie Ed erzählt, dass er ihr Vater ist?“, frage Diana.
„Ich glaube, er wünschte sich das für meine Mutter, dass sie mich hatte. Ja, ich bin überzeugt, er wusste es….
Haben sie Kinder?“, fragte Eds Tochter scheu. „Nein, leider nicht. Ich wollte keine… Ich glaube, er kam absichtlich von der nassen Strasse ab. Der Unfall passierte nicht weit von hier, auf dem Weg in Richtung Stadt. Ich glaube, er kam hierher und wollte bei Evelyne sein, doch dann sah er sie. Und dann wurde ihm klar, dass hier all das war, was er mit mir nicht haben konnte. Er hatte nie gesagt, dass ihm etwas fehlte, aber ich spürte manchmal, dass er mich bloss ausgehalten hat und ich mir was vormachte. Er war ein guter Ehemann, aber es war nie die Liebe, die Evelyne in ihren Briefen beschrieb.“
Während sie vertieft im Gespräch waren, fiel ihnen nicht auf, dass sie in Richtung des Friedhofs gingen. Die Gräber von Ed und Evelyne lagen nebeneinander. Ein Strauss verwelkter Dahlien war auf Eds Grab. Ein kleiner Zettel, der am Strauss hing, wehte im Wind. Diana nahm ihn und las die Zeilen.

Wenn ich am Abend die Augen schliesse, werde ich am Morgen neben dir erwachen.

  • „Wenn ich am Abend die Augen schliesse, werde ich am Morgen neben dir erwachen.“
    Die Sicherheit, dass dies so ist, kann die Schönste sein, die man haben kann.
    Schön erzählte Geschichte.

  • Gefühlig, aber nicht rührselig. Hat mir gut gefallen, die Story. Obwohl mir die Handlung einen Tick zu „schicksalhaft konstruiert“ war.

  • danke, dirty harry für deinen kommentar! ja ich weiss, die geschichte ist too much aber im herbst/winter wird alles als schwerer empfunden als sonst, dies sollte die stimmung widergeben

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