Robert Redfords „Die Lincoln-Verschwörung“

ist nicht nur eine historische Referenz, sondern auch eine Parabel auf jüngste amerikanische Geschichte.

„Die Lincoln-Verschwörung“ handelt nur vordergründig von der Verschwörung gegen Abraham Lincoln, kurz nach Beendigung des Amerikanischen Bürgerkrieges. Der Film rückt nicht den Attentäter John Wilkes Booth und seine direkten Mittäter in den Mittelpunkt, sondern Mary Surratt (Robin Wright), jene Frau, die die Attentäter in ihrer Pension beherbergte und die des Hochverrats und der Verschwörung mitangeklagt war.

Obwohl Mary Surratt in dem ganzen Geschehen eher eine Nebenrolle einnimmt, wird sie von der Anklage zum Dreh-und Angelpunkt der Verschwörung hochstilisiert. Dabei will man eigentlich an ihren Sohn John herankommen, der sehr viel mehr in die Tat involviert ist, als sie selbst. Mary Surratt und die Attentäter sind abzustrafen, unter allen Umständen und in voller Härte.

Es wird ein „Sonderrecht“ geschaffen, das es ermöglicht, Zivilisten vor ein – parteiisch besetztes – Militärtribunal zu bringen. Die Möglichkeiten zur Verteidigung werden stark eingeschränkt, die Verteidigung selbst unter die Beobachtung der staatlichen Organe gestellt, bis hin zur gesellschaftlichen Ächtung.

Der junge Anwalt Frederick Aiken (James McAvoy), selbst ein Kriegsveteran und überzeugter Nordstaatler, übernimmt anfangs nur widerwillig die Verteidung von Mary Surratt. Je mehr er jedoch mit der Beugung bzw. völligen Missachtung rechtstaatlicher Regeln konfrontiert wird, umso mehr nimmt er den Kampf für Surratt auf. Am Ende siegt dennoch sein Widersacher Stanton, der mächtige Kriegsminister. „Um der Rettung der Nation willen“ – das ist sein Postulat – muss gerade auch Mary Surratt hingerichtet werden.

Und hier schlägt „Die Lincoln-Verschwörung“ einen Bogen in die jüngste Vergangenheit. Hatte sich Redford bereits in „Von Löwen und Lämmern“ mehr als kritisch mit dem US-Engagement in Afghanistan und dem Irak-Krieg auseinandergesetzt, thematisieren sich in „Die Lincoln-Verschwörung“ gleichfalls die Brechung gültigen Rechts und die Unrechtmäßigkeiten der Bush-Regierung.

Wie Kriegsminister Stanton begründete auch die Bush-Regierung ihre außer- bzw. ungesetzlichen Handlungen bzw.die Schaffung von Sonderrecht im Umgang mit echten oder angeblichen politischen Feinden mit dem vorgeblichen „Wohl der Nation“. Unter diesem Postulat wurden Folter wie Waterboarding, Guantanamo, die Verschleppung in geheime CIA-Gefängnisse, um nur einige Beispiele zu nennen, von den seinerzeit politisch Verantwortlichen gerechtfertigt. Überhaupt Guantanamo: Die Haftbedingungen der Lincoln-Attentäter mit Dunkelhaft, Kapuzen über dem Kopf, ständiger Fesselung verweisen deutlich darauf.

Und so ist auch der Film-Titel „Die Lincoln-Verschwörung“ doppeldeutig: Gemeint ist nicht nur die Verschwörung der Attentäter, sondern auch die Verschwörung der politisch Verantwortlichen und den Trägern staatlicher Macht gegen Recht und Gesetz.

Am Ende siegt die Staatsmacht. Obwohl Aiken für seine Mandantin einen Aufschub errreicht, findet Stanton einen Dreh, diesen auszuhebeln. Mary Surratt stirbt zusammen mit den anderen am Galgen. „Die Lincoln-Verschwörung“ ist Redfords zutiefst pessimistischer Kommentar aus der amerikanischen Historie heraus zu aktuellen politischen Vorgängen. Aus der Geschichte wird nichts gelernt oder will man nichts lernen, so sein Resumée.

Redfords Film ist dicht und packend erzählt, in Sepia-Tönen gehalten wie alte Fotografien. Die mir schon fast zu detalliert geschilderte Hinrichtungsszene zerrt an den Nerven, obwohl die Figur der Mary Surratt keine unbedingt sympathische ist. Dennoch: Hier werden Menschen aus Staatsräson hingerichtet, von einem Staat, der sich als der bessere versteht, abgesehen von der grundsätzlich kontroversen Thematik der Todesstrafe.

Herausragend und glaubwürdig sind James McAvoy als Frederick Aiken und Robin Wright als Mary Surratt, während der übrige Cast mit Kevin Kline als Stanton und Tom Wilkinson als Senator Reverdy Johnson bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt ist.

Die schon fast altmodisch zu nennende Filmmusik von Mark Isham, die – ungewöhnlich für heutige Filme – jede Szene untermalt, gibt dem Film zusätzlich eine besondere Note.

Alles in allem ist Robert Redford mit „Die Lincoln-Verschwörung“ ein thematisch und filmisch hervorragend aufgearbeiteter, sehr sehenswerter Film gelungen. Redford tritt damit auch zunehmend in die Fußstapfen des leider verstorbenen Sydney Pollack, der es so wunderbar verstand, auch brisante Themen in eine unterhaltsame Form zu verpacken.

„Die Licoln-Verschwörung“, USA 2011, Regie: Robert Redford, ca. 120 Min.

© frida 2011

Fledermaus

Friedhofsparty

Halloween??

Um Mitternacht, zur Geisterstunde,
wenn süß das Glöcklein zwölfe schlägt,
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Ausstellung über das Nichts

Sie standen Schlange vor der großen Halle, in der so oft das Leben pulsierte, in der gefeilscht und gehandelt wurde. Das Motto der Ausstellung war ebenso gewagt wie es neugierig machte:

„Ausstellung über das Nichts“.

Wie sollte man es sichtbar machen, was nicht sichtbar war? Und wer würde Eintrittsgeld für inhaltsleere Vitrinen ausgeben, die Künstler mit ihren verrückten Ideen bestückten? Oder war doch etwas hinter dem Glas, das das Nichts einer Gesellschaft sichtbar machte, die sich verschanzte hinter der Heiterkeit, die alles überlagerte? Warum diese Ausstellung, woher die Magie, die sie verhieß?

Ich zögerte und überlegte, ob ich hineingehen sollte und ging hinein. Eine innere Unruhe hatte mich ergriffen, das Wichtige auf dem Tageszettel der Besorgungen und Besorgnisse zurück gedrängt. Die Menschen in der Warteschlange unterhielten sich über das, was auf sie zukam, über das, was sie erwarteten. Hatten sie nicht in der Vergangenheit schon oft ihr Geld ausgegeben für große Künstlernamen, die einmal waren? Die sich jetzt vor der Menge im Playback mit sich bewegenden Lippen und fett gewordenen Bäuchen selbst hörten, aus der Konserve ihrer Vergangenheit?

Was würde ich selbst erwarten, wo doch ungewöhnliches Stillschweigen im Vorfeld der Ausstellung herrschte? Es wurde nicht einmal groß die Werbetrommel gerührt. Nichts stand da im Vorprogramm, und ob es überhaupt außer den Wänden der Halle etwas gab, an das man sich halten konnte, wohin der Blick gerichtet sein würde. Vielleicht würde es nicht einmal einen Lageplan geben, auf dem man zu den Orten des Nichts führend aufmerksam gemacht wurde. Wie sollte man sich dem Thema stellen, ohne dass man einmal mehr enttäuscht eine Veranstaltung dieser Größenordnung verließ, und sich ausweichend dem Trivialen vor dem Fernsehschirm hingab?
Es musste also etwas sein, was das Nichts „sichtbar“ machte. Was aus einer leeren Vitrine entweichen wollte. Davor hier und da ein Wärter, der die Menschen zurückdrängte, wenn sie dem Nichts zu nahe kamen. Von innen nach außen drang es und traf auf Augen, die es so nah noch nie „gesehen“ hatten.

Jetzt, Jahre nach der Ausstellung, erinnere ich mich an das Bild- und trage es noch bei mir. Das Bild, das mir selbst zeigt, wie viel ich besitze und wie wenig es mir bewusst und wert ist.

Es war das Bild eines Kleinkindes. Nein, nicht der Körper, nicht seine zerrissenen Kleidungsreste. Der Fotograf hatte sein Motiv auf einer der hohen Schutthalden am Rande einer Großstadt entdeckt, und reflexartig ein paar Mal auf seinen Auslöser gedrückt. In einem der großen LKW Reifen, der angelehnt aufrecht den Berg zu stützen schien, lag es auf dem Bauch seiner erschöpft schlafenden Mutter. Von den drei Einstellungen, die er schoss, nahm er die, die das gewaltige Ausmaß des Nichts festzuhalten in der Lage war. Für einen Augenblick.

Bis ans Ende des Regenbogens

Ich hörte einen Gesang in der Ferne, als ob ein Chor aus hundert Engel singen würde. Ich verstand die Sprache nicht, aber dennoch bildete ich mir ein, die Botschaft darin zu verstehen. Die Melodie kam mir so vertraut vor, als hätte ich sie schon einmal gehört. Die Engel sangen von einem Land, weit weg von hier. Ich lauschte dem Lied und begab mich auf die Reise, obwohl ich mich gar nicht zu bewegen schien, zog ich an Menschen, Kulturen und Ländern vorbei, die ich bisher noch nicht kannte. Die Eindrücke sog ich ein wie ein Schwamm. Die Welt um mich herum dreht sich und ich fühlte mich als ihr Zentrum. Die Nächte brachten neue Tage, Sterben bedeutete Leben, die erlebte Liebe hieß Erfüllung. Ich ließ mich fallen, ließ mich gehen und gab mich dieser unsichtbaren Macht hin.

Nun fand ich mich wieder. Angekommen, wie es schien. Ich stand in einem fremden Haus. Ein neuer Tag brach an und Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster. Am Ende des Flurs sah ich eine Türe und als ich diese öffnen wollte, hörte ich wie ein Baby seinen ersten Schrei von sich gab. Ich sah die Mutter und das Neugeborene. Die Mutter sah mir direkt in die Augen, und ich spürte, wie sie durch mich hindurch sah. War ich unsichtbar?

„Nun bist du geboren bei Tagesanbruch. Die Sonne umgibt dich, und die Welt heißt dich Willkommen.“, sagte die Frau zu ihrem Kind. Wie wunderschön und vollkommen war diese Bild und ich spürte, wie eine Träne über meine Wange lief. Ich ging aus dem Zimmer, hinaus auf die Strasse und lief ziellos in diesem kleinen Dorf herum. Dabei streifte ich vorbei an Frauen, die Früchte, Gemüse und selbstgemachtes Essen an Ständen verkauften. Ihre Männer waren unten, beim Fluß, kauten Tabak und dachten an ihre Arbeit, welche noch nicht verrichtet war. Kinder Spielten oder lagen im Gras mit geschlossenen Augen und träumten in den Tag. Ich ging einen Weg entlang, der hoch durch Geäst und exotische Bäume führte. Ich genoß die Stille, sie brachte mir innere Ruhe. Die Luft war erfüllt von einem herrlichen süßen Duft. Ich fand eine Orchidee am Fuße eines großen Baumes und roch daran. Der Duft war betörend und ich war wie in Trance.
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Serum des Lebens

Ivan fuhr mit seinem Truck durch die finstere Nacht in dieser Einöde. Wie lange würde es wohl dauern, bis er an einem Haus oder einer Tankstelle vorbei kommen würde, fragte er sich. Er schaltete das Radio ein, um bei Laune zu bleiben. Leise ertönte Country Musik aus dem Lautsprecher, welche ihn schläfrig machte. Zu lange sah er kein Auto auf der Strasse und für seine Augen war es ein Schock, als ihm ein Auto mit großer Geschwindigkeit entgegenfuhr. Die Scheinwerfer blendeten ihn so, daß er kurz auf die andere Straßenseite ausscherte. Es war Zeit, einen Standort für die Nacht zu finden. Er haßte diesen Job bei Pyro, eine zwielichtige Gestalt, die Illegale beschäftigte. Er beutete die Leute aus, gab ihnen nur einen Mindestlohn, ohne Versicherung, wohl gemerkt, aber wer illegal hier war, darf nicht wählerisch sein. Für einen kurzen Moment schloß Ivan die Augen, als etwas gegen den Truck prallte.

Es dauerte über zwanzig Jahre, bis das Projekt „Eternity“ so weit war, um es in die Tat umzusetzen. Die Experimente dazu, begannen als Dr. Goldstein vierzehn war. Er träumte schon immer davon, unsterbliches Leben zu schaffen. Dazu machte er Versuche an Hamstern und Mäuse. Die ersten Versuche mißlangen und die Tiere starben innerhalb einer Woche nach Erhalt einer Injektion von mutierten Zellen, die die Teilung der eigenen Zellen beschleunigten. Doch jedes Mal wurde eine andere Veränderung des Verhaltens bis zum Tod beobachtet. Nun war es an der Zeit, das Serum an einem Menschen auszuprobieren, und man hatte auch schon jemanden dafür im Visier. Dr. Goldstein lächelte vor sich hin, und freute sich bald einen Prototyp zu finden.

Ivan erwachte in einer Zelle. Erschrocken fuhr er aus dem Bett hoch, bis er merkte, daß er an Armen und Beinen an das Bett gefesselt war. Drei Infusionen waren an ihm angehängt. Er schrie so laut wie er konnte um Hilfe, doch nur ein Flüstern kam heraus. Suchend schaute er sich nach dem Hilfeknopf um, doch außer ein Stuhl und ein Tisch war nichts mehr in diesem fensterlosen Raum zu sehen. Schritte waren vom Korridor zu hören, und Ivan hoffte, daß jemand nach ihm schauen würde. Er schrie nach Hilfe, doch nur ein Flüstern kam aus seiner Kehle.
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Grundsätzliches

Mama, ach…
Was ist, mein Kind?
Sieh, wie grau die Tage sind…
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“Kuss der Spinnenfrau” („Kiss of the Spiderwoman“)

Eine Wiederbegegnung mit Hector Babencos „Oscar®“-prämierten Film, endlich auf DVD erschienen.

Zwei Männer in einem Gefängnis in einem beliebigen südamerikanischen Land, irgendwann Anfang der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Das wäre noch nichts besonderes, wenn der eine –Molina – nicht ein Homosexueller, obendrein eine Tunte wäre, der andere – Valentin – nicht ein schwer gefolterter politischer Gefangener. Die beiden umkreisen sich zunächst wie feindliche Galaxien: Auf der einen Seite die scheinbar oberflächliche Tunte, die völlig naiv von alten Nazi-Filmen bzw. von deren Hauptdarstellerin schwärmt und auf der anderen Seite der überzeugte Revolutionär, scheinbar ungebrochen von der Folter.

Aber das ist nur die Oberfläche. Im Verlauf des Zusammenseins auf engstem Raum offenbaren Molina (herausragend: William Hurt) und Valentin (ebenfalls herausragend: Raul Julia), dass sich hinter ihren „offiziellen“ Masken zwei außerordentlich verletzliche und sensible Menschen verbergen, zwei Männer, die mehr miteinander gemeinsam haben, als es zuerst den Anschein hat.

Die Entstehungsgeschichte von “Kuss der Spinnenfrau” ist die eines Projektes einer Handvoll Filmbessessener. Eine Tunte und ein Revolutionär – das war kein Stoff für ein amerikanisches Massenpublikum Mitte der 80iger Jahre. Und folgerichtig fand sich kein großes Hollywood-Studio, das diesen Film finanzieren, geschweige denn drehen wollte.
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Eine belanglose Begegnung?

Wenn ich zu meinem Dienst fuhr, morgens um halb sechs, sah ich ihn auf dem Radweg rechts neben der Landstraße in Sportkleidung seine Runde drehen. Welche Runde das war, wie viele Kilometer er regelmäßig zurücklegte, konnte ich nur erahnen. Ich schätzte, es waren so an die zehn Kilometer, die er lief und das ziemlich zügigen Schrittes. Fuhr ich nachmittags um halb vier zum Spätdienst, sah ich ihn erneut.

Ich wusste lange Zeit nicht, ob auch er mich wahrnahm – wie viele Wagen fuhren wohl während seines Spazierganges an ihm vorbei und wie viel registrierte er von dem, was um ihn herum geschah? Er schien immer in sich selbst versunken, hing vermutlich seinen Gedanken nach.

Anfangs scherzten meine Kollegin und ich, die manchmal gemeinsam fuhren, über ihn – morgens um halb sechs sind nur die auf der Straße, die wie wir zur Arbeit müssen, aber freiwillig läuft doch wohl keiner durch die Wallachei?
Er beschäftigte uns. Was bewegte ihn dazu, jeden Tag unerbittlich seine Runde zu laufen? Und die gleiche vermutlich auch nachmittags? Wir konnten das abschätzen, denn an manchen Tagen mussten wir zum geteilten Dienst – fuhren morgens und nachmittags dieselbe Strecke und jedes Mal trafen wir ihn.
Das heißt, es war ja kein Treffen im eigentlichen Sinne. Wir begegneten uns nur und das Kuriose war – trotz unterschiedlicher Geschwindigkeit, Abweichungen von den Minuten, in denen ich von meinem Zuhause losfuhr und verschiedenen Ampelschaltungen traf ich ihn immer am selben Punkt meiner Wegstrecke.

Eine Zeitlang nahm ich ihn nur aus den Augenwinkeln flüchtig wahr, registrierte ihn, nach dem Motto – ach, da ist der wieder – vermisste ihn jedoch, wenn ich ihn nicht sah.

Einmal blickte ich exakt in seine Richtung und er lächelte mich fast unmerklich an, ich kann nicht erklären, was in seinem Blick war – vielleicht ein Erkennen, ein Anzeigen, dass auch er wusste, dass es ich bin, die sich wie er jeden Tag zur gleichen Zeit auf dieser Strecke befand. Es war weit entfernt von einem Augenflirt zwischen Mann und Frau, es war kein ‚Hallo‘, nicht mal ein Begrüßen, aber es war – ein ganz leises Wahrnehmen.

Gleich am Tag danach reckte er keck zum Gruß seinen Wanderstock, den er stets bei sich trug, als wir uns trafen – ich im PKW, er wandernd auf dem Weg. Ich nickte ihm kurz zu – es war vielleicht nur ein Bruchteil einer Sekunde – und schon waren wir wieder aneinander vorbei.
Am nächsten Tag aber hob er beide Arme und lachte, ich nahm spontan meinen Arm vom Lenkrad und winkte ihm ebenfalls lachend zu – wir kannten uns nicht, aber diese gemeinsame Strecke mit unterschiedlichen Zielen zur gleichen Zeit verband uns.

Lange sah ich ihn nicht, warum auch immer. Ich machte mir keine allzu großen Gedanken über ihn, mein Alltag war zu schnell, zu stressig, manchmal nahm ich auch eine andere Fahrtstrecke, hatte ganz andere Dienstzeiten und doch – fragte ich mich, ob es ihn überhaupt noch gab, diesen seltsamen Wanderer, und ob er seine Runden immer noch regelmäßig lief.

Heute morgen sah ich ihn endlich nach langer Zeit wieder, auf meinem Weg zum Dienst, zu einer anderen Zeit als sonst – es war halb acht in der Früh.
Mich hat er nicht bemerkt.
Aber ich ihn schon.

Und irgendwie war ich erleichtert, ihn auf seiner gewohnten Strecke zu sehen.

Afrikanische Träume

Wenn ich sie alle zusammen zählen sollte, ich hätte vergessen wie viele es waren. Meine Träume bei Nacht, nicht bei Tag. Sie unterschieden sich nicht durch das Licht, das fehlte auch nachts nicht. Die tagsüber waren bestimmt durch eine gewisse Kürze, ein Moment der Abwesenheit, den ich mir damals in Schulstunden leistete, wenn es all zu wichtig wurde, oder eine Gedankenversunkenheit an einem der vielen Biertresen, an denen man so herrlich träumen konnte, während ich die Blasen im Glas begann zu zählen. Ich konnte einem Gegenüber zuhören. Selbst wenn ich an Afrika dachte, konnte ich das, und er merkte nicht wie weit ich weg war während er weiter erzählte.

Afrika!

Wenn etwas mit Traum zu tun hatte, wie oft war ich dann dort? Wie lange fort in seinem Gras, das so schnell wuchs wie es sterben konnte? Einmal saß ich am Rand hoch über einem Tal auf einer Klippe, über die der Tag gefallen war. Ich war allein. In seinem typischen Schweigen schien der Vollmond in die Ebene, durch die sich der Fluss wand. Still war er wie die Blumen mit ihren hunderttausenden weißer Blüten, die seinen Rand säumten. Das Ganze war wie ein edles Stückchen Stoff, durch den ein Reißverschluss lief. Die Hänge am Einschnitt fielen dunkel bis schwarz, und ganz oben oberhalb der Bergkette begann der Himmel.

Vornehm und zurückhaltend, sich seiner Weite sehr bewusst, warf er mir ein paar Sterne hin. Ich spürte wie kalt oder heiß sie waren. Spürte, ob es Eis war aus Licht oder Licht aus Eis. Nie saß ich länger hier. Afrika ließ es nicht zu. Ich begann Weite zu ermessen oder Zeit, die nichts anderes war als etwas zwischen den Weiten. Ich suchte nach Tieren, die sich nur nachts heraus trauten, sich ihrer Unsichtbarkeit vergewisserten und am Fluss wagten zu trinken.

Zum Fluss sprang ich durch den weichen Sandhang, lief durch die Blumenwiese und stand bald an seinem Rand. Große Steine luden mich ein ihn zu überqueren. Manche erkannte ich kurz unter der Wasseroberfläche. Er führte Niedrigwasser. Ihn zu überwinden kostete mich nichts außer nassen Füßen und etwas Furcht die Balance zu verlieren. Als ich mich umsah fehlten die Steine, der Fluss führte Hochwasser. Die schöne Wiese lag weit entfernt. Oben am Hang sah ich mich selbst sitzen. Mein zweites Ich. Ich winkte ihm zu mir zu helfen, doch es bemerkte mich nicht.

Als ich laut um Hilfe rief, klang es in der Wirklichwelt meines Schlafzimmers wie ein Wimmern. Ich fror, weil ich zuvor geschwitzt hatte und erwachte. In erreichbarer Entfernung mein Wecker, der spätestens um fünf Uhr alle Träume beendet hätte. Zeitgerecht könnte man sagen, und so elend wahr, dass ich mir die Blumenwiese wieder herbei sehnte und das, was ich bis heute unter Afrika verstehe. Etwas ohne Horizont durch seine Größe, eher dem Himmel zuzuordnen als der Erde. Etwas, bei dem Freude die Angst überwältigt, die Gegenwart zählt, weil die Zukunft schnell vorbei ist wie das Gras, in dem es noch am Morgen an einem der beiden Ufer wagt zu blühen.

Kamila Shamsie: „Verglühte Schatten”

Es erstaunt mich immer wieder, welch spannende Literatur gerade auch außerhalb unseres westlichen Gesichtskreises geschrieben wird.

So ging und geht es mir mit der pakistanischen Autorin Kamila Shamsie, Jahrgang 1973, seitdem ich mehr oder minder zufällig auf deren Roman „Verbrannte Verse” stieß. Shamsie, aus Karatschi gebürtig und dortselbst und in London lebend, ist mittlerweile auch im Westen keine Unbekannte mehr. Ihre Romane „Verbrannte Verse”, „Salz und Safran”, „Kartographie” und „Verglühte Schatten” sind sämtlich auf Deutsch erschienen. Ich habe sie alle gelesen, zuletzt „Verglühte Schatten”, der auf der Shortlist des „Orange Prize for Fiction” stand und der meiner Meinung nach ihr bisheriges Meisterwerk unter ihren sämtlich meisterlich zu nennenden Romanen ist.

Shamsies Romane kreisen sämtlich um das Private, das politisch ist und das Politische, das das Private ist, insbesondere um die Auswirkungen politischer und sozialer Verwerfungen bis tief hinein in das Leben von Individuen und deren Familien. Pakistan, das Produkt jener unglückseligen Teilung des indischen Subkontinents nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft, belastet mit mächtigen Problemen von Beginn der Staatsgründung an, ein Land, das uns im Westen immer nur dann ins Auge fällt, wenn wieder einmal eine Katastrophe passiert ist, ist ihr Dreh-und Angelpunkt, uns ihre Geschichten über Menschen und Familien zu erzählen, die eigentlich auch nichts anderes wollen, als ihr Lebensglück zu finden.
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