Rians Schiffe

Die „Falcon“ war das stolzeste Schiff auf den Ozeanen jenseits der Zeit. Kein Name zierte ihren Rumpf, doch wenn sie unter vollen Segeln vor einer Küste auftauchte und dann in den Hafen einlief, flüsterten die Leute ehrfürchtig „Der Falke ist zurück.“ Ein hölzerner Falke zierte den Bug des Schiffes und gab ihm seinen Namen. Wer immer ihn geschnitzt hatte, hatte wohl daran getan.

Pfeilschnell durchpflügte die „Falcon“ selbst die raueste See, Wellen und Sturm schienen ihr nichts anhaben zu können. Kein anderes Schiff hatte so viele Gefahren überstanden. Kein Kontinent, an dem sie nicht angelandet war, kein Ozean, den sie nicht bezwang, kein Hafen der Welt, der den Bugfalken nicht schon gesehen hatte.

So berühmt wie das Schiff waren seine Kapitäne: Thomas Boyne war der erste, der, so erzählten es die Legenden, die „Falcon“ eines Tages fand, als er nach dem Untergang seines Schiffes auf einer Insel strandete. Dort sah er die „Falcon“ in einer Bucht liegen, ohne Mannschaft, ohne Kapitän, ohne jemanden, der ihm hätte sagen können, wem das Schiff zu Eigen war.
Er suchte in der Kajüte nach Papieren und fand Seekarten aus aller Herren Länder sowie ein Pergament, das er sorgsam verwahrte.

Thomas Boyne heuerte seine Mannschaft mit Bedacht an und als er merkte, dass seine letzte Fahrt bevorstand, wählte er aus ihrer Mitte Brendan O’Gallagher als Nachfolger. „Achte die Worte, wie ich es tat“, sagte er zu ihm und übergab ihm das Pergament. Dann starb er.

Ebenso wie Thomas Boyne gab auch Brendan O’Gallagher das Schiff auf dem Totenbett weiter, mit denselben Worten, und sein Nachfolger tat es und dessen, durch zwei Jahrhunderte der Ewigkeit. Nun war Patrick Cleary Herr auf dem Schiff, ein erfahrener, gerechter Mann.

Die „Falcon“ lag ruhig im Hafen, ein paar Männer waren an Bord, doch der Großteil der Mannschaft vergnügte sich an Land. Der Proviant für die nächste Fahrt war schon geladen, morgen würde das Schiff wieder ablegen. Plötzlich stürzte einer der Matrosen an Bord und in die Kajüte des Kapitäns. „Sir“, bat er, „bitte, Ihr müsst kommen.“
„Was ist los?“, fragte Patrick Cleary.
„John Dempsey ist in Haft, sie sagen, er sei ein Dieb, doch sie lügen. Sie geben ihn gegen ein Lösegeld frei.“
„Ruf die Mannschaft zusammen, wir legen ab, sobald ich mit John Dempsey zurück an Bord bin“, antwortete der Kapitän und machte sich auf den Weg zum Gefängnis.
Doch kaum hatten er und der Matrose das Schiff verlassen, enterte eine Bande von 20 Männern die „Falcon“, tötete die verbliebenen Matrosen und legte mit dem Schiff ab.

Ihr Anführer, ein wilder Geselle namens Ronald O’Keife, ließ sich Rum bringen und feierte ausgelassen seinen Erfolgt. Dann fand er in einer Schatulle das Pergament. „Jack!“, rief er nach dem jüngsten der Bande, „Komm her und lies das vor.“
Der Junge kam und las es einmal still für sich.
„Was steht dort?“, brüllte Ronald.
„Ich darf es nicht sagen“, antwortete Jack.
„Lies es vor!“ Ronald schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Sir, es wird uns alle ins Verderben stürzen“, warnte Jack.
Ronald packte und schüttelte ihn. „Dieses Schiff ist der Stolz der Meere, keine Welle, die es nicht trägt, kein Sturm, dem es nicht trotzt, kein Land, das es nicht erreichen kann. Und du fürchtest ein Stück Pergament?“
„Der Zauber des Schiffes wird gebrochen, wenn ich es vorlese“, zitterte Jack.
Ronald zog seinen Säbel. „Lies es vor, oder du stirbst.“
„So sterbe nur ich. Wenn ich es lese, sterben wir alle.“
Da lachte Ronald, ließ seine ganze Band in die Kajüte kommen und sagte zu seinen Männern: „Der Junge soll das Pergament lesen und behauptet, dass wir alle sterben, wenn er es gut. Entscheidet ihr, wollt ihr hören, was dort steht?“
Die Neugier der Männer war größer als ihre Angst.
„Lies es, lies es“, brüllten sie und traktieren Jack mit ihren Säbeln.
Der Junge ergab sich seinem Schicksal.

*

In einem kleinen, reetgedeckten Landhaus diesseits der Zeit saß der alte Rian an seinem neuen Meisterwerk. Ein Dreimaster war es, weiß wie der Schnee, der bald wieder die Hügel bedecken würde. Unter vollen Segeln stand das Schiff auf Rians Werkbank und er richtete die letzten Taue. Dann nahm er ein Pergament und versah das Schiff mit einem Zauber. Zuletzt brachte er einen sorgsam geschnitzten Delphin am Bug an und stellte eine dickbauchige Flasche bereit.

*

Jack stammelte nur langsam die Worte auf dem Pergament, als könne er dadurch verhindern, was nicht aufzuhalten war:
„Vom Wind getrieben, vom Meer getragen,
frei wie ein Falke sei meine Fahrt.
Lass dich von mir lenken, das musst du wagen
und verschweige den Zauber, weil er sonst …“
Jack hielt inne.
„Weil er sonst was?“, hielt ihm Ronald den Säbel an die Kehle.
„Erstarrt“, röchelte Jack und von diesem Moment an stand die Zeit für die „Falcon“ still.

*

Als Rian die „Falcon“ am nächsten Morgen in der ihr zugedachten Flasche fand, stelle er sie zu den anderen Schiffen in seine Vitrine. Dann ging er an den Strand und setzte die „Dolphin“ ins Meer. Zurück in seiner Werkstatt begann er mit den Entwürfen für das nächste Schiff.

  • Eine bezaubernde Geschichte, mit überraschendem Ende. War gefesselt während des Lesens und bin nachhaltig beindruckt von deiner tollen Story. Warum ist mir das nicht eingefallen? 🙂

  • Klasse Geschichte. Genial!
    Und irgendwie ahne ich nach den letzten Beiträgen, wo Du im Urlaub warst ;-).

  • Ich kann mich nur anschließen! Eine wundervolle Geschichte, sie klingt wie eine Sage.

  • Wie schön! Vor allem kommt man nicht drauf, es ist eine tolle Pointe, die aber das Ganze nicht zu einem Witz verkommen lässt, sondern die romantische Melancholie aufrecht erhält.
    Dein weicher, erzählender Schreibstil gefällt mir darüber hinaus sehr, und obwohl die Handlungsstränge so rasch vorangetrieben werden, hat man am Ende das Gefühl, man würde einen Roman zuklappen.

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