Sannas Träume
Sanna lächelte still in sich hinein. Es war nicht das erste Mal, dass ihr diese Frage gestellt wurde, doch nun kam sie von ihm. Sie spielten ein Spiel, um sich besser kennenzulernen: Jeder stellte eine Frage und der andere durfte entscheiden, ob er sie beantwortete oder nicht. Wenn er es tat, musste der Fragende ebenfalls antworten. Nun hörte sie: „Und wovon träumst du?“
Er hatte ihr seine Träume in den schönsten Farben gemalt, von einem Leben am Meer, in Sichtweite des Leuchtturms. Ein kleines Haus am Wald wollte er bewohnen, das vielgrüne Blätterspiel des Sommers genießen, das flammende Rot des Herbstes, die Reinheit des Schnees im Winter und das knospende neue Leben im Frühjahr. Er beschrieb die Nuancen des Meeres, den türkisen Schimmer im Nachmittagslicht, die schwarzen Wogen bei Sturm und das beruhigende Blau, dem er sich allzu gern hingab. Er wusste all dies so lebendig zu erzählen, dass jeder, der es hören mochte, die Bilder vor Augen sah.
Sanna nahm seinen Traum auf und schrieb zurück: „Der Wald ruft mich mit seinem Duft, meine Hände ertasten die Rinde jedes Baumes und so nenne ich dir seinen Namen. Der Wind erzählt vom Frühjahr, die Hitze des Tages vom Sommer, das nebelfeuchte Moos vom Herbst und die kahlkalten Äste vom Winter. Das Meer singt mir seine Lieder, trägt sie mal sanft zu mir, mal tosend, und ich schmecke das Salz, das ihm Bote ist. Manches Schiffshorn grüßt den Leuchtturm, von dem du mir erzähltest.“
Sie musste nicht lange auf seine Antwort warten. „Was ich in Farben malte, träumtest du in Empfindungen fort. Du hast Recht. Mein Traum enthält viel mehr als die Bilder, die ich sehe.“
Sanna überlegte. War es an der Zeit, es ihm zu sagen? „Und meiner enthält alles außer ihnen“, antwortete sie ihm.
Minutenlang kam nichts zurück. Vielleicht dachte er nach. Vielleicht war er schon nicht mehr online und sie wusste es nicht, von ihm getrennt durch Datenleitung und Monitor.
„Du hast Träume ohne Bilder?“, fragte er dann.
„Ich habe Träume mit Gespür“, antwortete sie.
„Bist du blind?“
Sanna wünschte sich, sie hätte die Frage aus seinem Mund gehört, nicht durch die blecherne Stimme ihres Lesegerätes.
Sie fürchtete sich. Nicht vor ihrer Antwort, sondern vor seiner Reaktion darauf. Sobald sie es zugab, könnte er den Kontakt abbrechen. Er wäre nicht der Erste, der es tat.
„Meine Augen sind blind“, schrieb sie, „meine anderen Sinne sind es nicht.“
Wieder entstand eine Pause.
„So werde ich, wenn wir vor unserem Haus stehen, die Augen schließen und mich deinen Sinnen überlassen, damit du wiedererweckst, was verkümmert, wenn wir uns nur auf das konzentrieren, was wir sehen“, schrieb er zurück und Sanna lächelte erneut.
Songline
14. Okt 2011
Diese Geschichte ist aus einem Seufzer heraus entstanden. Ich schrieb Mumpitz, dass ich keine Ideen für Geschichten mehr habe und er gab mir als Thema vor: Träume ohne Bilder. Ich runzele die Stirn, dachte: „mh“, ließ die Gedanken kreisen und auf einmal floß die Geschichte aus mir heraus.
Danke Mumpitz, das Thema war toll!
Wer mich noch aus meiner Einfallslosikgkeit befreien möchte, kann mir gern ein Thema per PN vorgeben 😉
Meine zuletzt geschriebene Geschichte „Rians Schiffe“ ist nämlich auch wegen eines Begriffes entstanden, den ich aufgeschnappt hatte.
enja
14. Okt 2011
Das Thema und die Art, wie du es aufgearbeitet hast gefallen mir sehr. Aber…. 🙂 mir liegt der letzte Satz irgendwie quer. Nach der schönen Geschichte klingt er meiner Meinung nach etwas abgedroschen, so wie ein kischtiges Märchenende. Er hängt irgendwie allein am Ende der Geschichte herum. Um deiner Geschichte Gefühl zu verleihen ist er gar nicht nötig.
Was hältst du davon?
…schrieb er zurück und Sanna lächelte erneut.
…schrieb er zurück.
LG
Songline
14. Okt 2011
Hi Enja, danke für deine konstruktive Kritik, ich habe den Schluss entsprechend geändert.
aletheia
14. Okt 2011
Klasse Geschichte!
Du brauchst Schreibanregungen? Da sind wir ja schon zu zweit 🙂 Dein Küchentisch hat mich ja kürzlich inspiriert, aber mit dem Zauberer kann ich zum Beispiel gar nix anfangen.
Naja, kommt Zeit, kommt Idee, nö?
Mumpitz
14. Okt 2011
Hi Song,
sehr romantisch-träumerisch, deine Geschichte, sehr schön!
Gekka
14. Okt 2011
Schöne Geschichte. Du hast keine Schreibideen mehr?
Hm. Ich kanne da mal jemanden, der hatte beim Bügeln die besten Ideen.
Vielleicht kommst du einfach zu mir bügeln?
Sich gegenseitig seine Träume zu erzählen, ist was schönes.
Gekka