Marga
„Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen? Wissen Sie, ich sitze immer auf dieser Bank, jeden Tag, Sommer wie Winter, egal, wie das Wetter ist. Ich sitze hier und hänge meinen Gedanken nach. Einen schönen Hund haben Sie da, ja, ich weiß, Labrador, die mag ich gern. Nein, ich habe keinen Hund, wissen Sie, in meinem Alter ist mir das zu anstrengend. Bin ja nun schon über 80. Aber es geht mir gut, ja, sehr gut, man muss zufrieden sein.
Warum ich immer wieder hierher komme? Das ist eine seltsame Geschichte und sie ist lange her. So jung waren wir damals, zu jung, meine Marga und ich. Wir kannten uns von klein auf, waren Nachbarskinder und gingen gemeinsam zur Schule. Marga mit ihren Zöpfen, so sah ich sie immer, das Mädchen mit den Zöpfen. Albern waren wir, haben viel Blödsinn zusammen gemacht und über alles gesprochen, wie Kinder so sind. Und irgendwann waren wir keine Kinder mehr, aber auch noch nicht richtig erwachsen. Wir gingen zur Konfirmation und Marga bekam ein Buch geschenkt von einem Onkel in der Schweiz, der mit Rilke befreundet war. Rainer Maria Rilke, den kennen Sie, nicht wahr? Jedenfalls war es ein Buch mit Gedichten von Rilke.
„Das ist zu schwer für mich“, hat die Marga gesagt, und das Buch erst einmal in ihre Kiste gelegt.
Aber ein paar Jahre später holte sie es wieder hervor. Und begann, mir daraus vorzulesen. Aber wissen Sie, ich hab’s nicht verstanden. Wir waren die Kinder einfacher Leute und ich hatte mit Gedichten so gar nichts am Hut. Ich bin in der Tischlerei in die Lehre gegangen und war viel mit meinen Freunden unterwegs. 17 war ich da. Und wusste nun nicht, was die Marga mir sagen wollte mit ihrem Rilke. Heut’ sag ich, ich war richtig naiv. Eines Tages kam sie, die Marga, und schlug ihr Buch auf.
„Das les ich jetzt nur für Dich“, sagte sie. Und sie las:
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möchte ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Dann hat sie dagesessen, mit glänzenden Augen und roten Wangen, auf der Bank, genau da, wo Sie jetzt sitzen. Sie hatte längst keine Zöpfe mehr, aber in meinen Augen war sie immer noch das kleine Mädchen, das ich seit Kindertagen kannte. Marga, die kleine alberne Göre, die jeden Blödsinn mitmachte. „Ja, und?“, hab ich gefragt. „Das heißt, ich hab dich lieb“, hat die Marga gesagt. Ich war ganz durcheinander. Und wusste nicht, was ich nun tun sollte. „Ich muss heim“, hab ich gesagt und bin gegangen.
Von da an war die Marga komisch. Aber ich konnte doch nichts dafür, hab’ ich gedacht. Wenn sie mich lieb hatte und ich sie nicht, dann konnte ich doch nichts dafür. Die Marga wollte mich dann oft nicht sehen. Und wenn wir uns gesehen haben, dann war sie traurig. Es war nicht mehr viel anzufangen mit der Marga.
Irgendwann haben wir dann doch wieder hier gesessen, auf dieser Bank, und die Marga hat ihr Buch herausgenommen.
„Ich fahre in die Schweiz zum Onkel. Ich kann dort bei reichen Leute eine Stellung bekommen als Kindermädchen.“
Das gab mir dann doch einen Stich. Nein, ich hatte die Marga nicht lieb, da war ich mir sicher, aber ich wollte auch nicht, dass sie ging.
„Schreibst Du mir?“ war das einzige, was ich sagen konnte.
„Ich schenk’ Dir ein Gedicht“, sagte sie und las:
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewußtseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um den Gipfel reine Verweigerung. – Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens…
Diesmal wollte ich nichts falsch machen. Diesmal nicht. Aber wissen Sie, ich hatte es wieder nicht verstanden. Es war irgendwie traurig, so wie die Marga. Sie wollte bestimmt aufgemuntert werden, habe ich gedacht, aber wie das so ist, man weiß nicht, was man tun soll, in so einem Moment. Ein Witz fiel mir nicht ein und er wäre auch sicher nicht passend gewesen, also hab ich gesagt:
„Das ist sehr schön.“ Doch die Marga hat mich wieder nur komisch angesehen.
„Ich muss heim“, sprach sie und ging.
Dann war sie fort, ohne Abschied. Und ich musste in den Krieg bald darauf. So manches Mal hab ich da an die Marga gedacht und ihre seltsamen Gedichte, die ich nicht verstand. Wenn sie nur bei mir wäre, die Marga, mit ihren lustigen Zöpfen. Wenn es nur wieder so wäre wie in unseren Kindertagen. Unbeschwert. Unschuldig. Ich träumte mich mit Marga auf den Schulweg, während ich im Schützengraben lag. Und oft genug sah ich sie auch hier sitzen, mit glänzenden Augen und roten Wangen und ich erinnerte mich nur an ein paar Zeilen von Rilke, die sie mir damals vorgelesen hatte:
„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.“
Da erst habe ich meine Marga verstanden. Und nur noch an sie gedacht. Das war mir meine Flucht.
Dann war der Krieg zu Ende. Und bald darauf auch die Gefangenschaft. Ich kehrte heim, hierher, und saß so manches Mal auf dieser Bank, auf der die Marga mir Gedichte vorgetragen hatte. Und eines Tages sah ich sie hier sitzen, die Marga, hier auf unserer Bank. Es war kein Traum, diesmal war sie wirklich da. Saß dort und las in einem Buch. So tief versunken in ihre Gedanken, dass sie mich nicht sah.
„Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht“, hab ich gesagt.
Die Marga hat aufgesehen und geweint. Wir beide haben geweint. Über ihren Schmerz. Über meine Sehnsucht. Über die sinnlos vergeudete Zeit.
„Kannst Du mir wieder gut sein?“, fragte ich bang.
„Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?“ flüsterte sie und lächelte. Mit glänzenden Augen und roten Wangen, genau wie damals. Meine Marga.“
Hulemule
30. Apr 2010
ach *soifz* …
Angi
30. Apr 2010
Boh ist das wunderbarschön…
…so schön, dass mir schlicht die Worte fehlen…
Mumpitz
3. Mai 2010
Mit wenigen Worten ein Leben erzählt. Also dass, worauf es in diesem erzählten Leben wirklich ankam. Du kannst gut erzählen, finde ich!
manu
3. Mai 2010
ich lese sie sehr gern – Deine Geschichten!
Songline
15. Mai 2011
Als Beitrag zu „Bilder zaubern Worte“ nochmal hochgezogen.
Rejeka117
15. Mai 2011
Oh wie wunderschön erzählt. Von Ergriffenheit ein Tränchen vergossen.
Dirty Harry
16. Mai 2011
Hmja, hähä, hätte er von ihr ein Gedicht von Mumpitz gekriegt statt von Rilke, hätte er nicht so ratlos reagiert und ihr wäre viel Frust erspart geblieben.
Songline
16. Mai 2011
😀 Harry, da gebe ich dir Recht
aletheia
16. Mai 2011
Mumpitz hat es gut gesagt: mit wenigen Worten ein ganzes Leben erzählt. Irrungen, Ver-Wirrungen.
Ich mag sie ja, die Gedichte von Rilke.
Und deine Erzählungen mag ich auch.