Ein Sturm auf hoher See. Ein großer Frachter geht unter, an Bord ein kompletter Zoo, mitsamt Zoodirektor und dessen Familie. Nur der zweitälteste Sohn überlebt als einziger dieses Unglück, auf einem Boot – zusammen mit einem bengalischen Tiger. Sie treiben über Wochen zusammen auf dem Meer und überleben beide am Ende.
Kann eine solche Geschichte, die weit über die Hälfte des Films ein intimes Kammerspiel ums Überleben auf dem unendlichen Meer ist, die Aufmerksamkeit des Zuschauers knapp über rund 120 Minuten festhalten?
Sie kann. Ang Lee („Sense and Sensibility”, „Brokeback Mountain”, „Gefahr und Begierde”) hat mit der Verfilmung von Yann Martells Bestseller aus dem Jahr 2001 wieder einmal seine Extraklasse unter den zeitgenössischen Regisseuren bewiesen und gleichzeitig, dass er auch mit dem Medium „3D” perfekt umgehen kann.
Der erwachsene Piscine „Pi” Molitor Patel (Irrfan Khan) erzählt einem Schriftsteller (Rafe Spall) seine erstaunliche Geschichte vom Überleben mit einem Tiger im Boot. Pi, benannt nach einem französischen Schwimmbad, wächst als zweiter Sohn des Zoodirektors von Pondicherry – einem kleinen Unionsterritorium an der Malabarküste Südindiens, erst 1954 von den Franzosen an Indien zurückgegeben – auf.
Während der Vater (Adil Hussein) ein Rationalist durch und durch ist, lernt Pi (Suraj Sharma) durch die Mutter (Tabu) sich in den Hinduismus zu vertiefen, eine spirituelle Erfahrung, die er später dann mit Christentum und Islam komplettiert. Pi ist also Hindu, Christ, Muslim zugleich, eine Erfahrung, die ihm später den Glauben an sein Überleben sichern wird.
Aufgrund der unsicheren politischen Lage entscheidet Pis Vater, mit dem gesamten Zoo nach Kanada zu übersiedeln. Wie schon oben beschrieben gerät aber der Frachter in Seenot und geht unter.
Am Anfang teilt sich Pi mit mehreren Tieren das Rettungsboot, einem verletzten Zebra, einem Orang-Utan Weibchen, einer Hyäne, einer Ratte und dem Bengal-Tiger „Richard Parker”. Schnell klärt sich die Lage aber derart, dass von den Tieren nur noch der Tiger übrig bleibt. Richard Parker steht dabei als Sinnbild für die urtümliche Kraft der Natur, in der Pi nichts anderes übrig bleibt, als durch List zu überleben.
In Kritiken wurde geschrieben, dass Pi den Tiger zähmt. Das ist nicht richtig. Der Tiger ist weder zähmbar noch zu bezwingen. Als Pi das verstanden hat, geht er mit dem Tiger – und dieser mit ihm – eine Art Überlebenspakt ein.
Nach Wochen auf dem Meer und einem weiteren schlimmen Sturm, der fast das Ende von beiden bedeutet, erreichen die zwei eine schwimmende Insel, die von Tausenden Erdmännchen bevölkert ist. Ein Paradies bei Tag, aber ein Albtraum bei Nacht. Die Insel ist eine fleischfressende Pflanze, die sich nachts nimmt, was sie tagsüber gibt. Pi muss weiterziehen, um nicht von der Insel gefressen zu werden. Es ist keine Frage, dass er Richard Parker mitnimmt.
Es gibt ein Happy End. Pi erreicht die Küste von Mexiko und wird endlich gefunden. Der Tiger verschwindet im Dschungel, er kehrt in den Schoss der Natur zurück, von wo er einst weggenommen wurde.
Hinter der Phantastik von „Life of Pi” verbirgt sich eine ganze Welt philosophischer Fragestellungen: Die Stellung des Menschen im Universum, die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, die Beziehungen zwischen Tier und Tier. Gibt es eine lenkende Hand? Gibt es Gott? Und wenn ja, warum lässt er solche Dinge zu? Auf welcher Bewusstseinsstufe begegnet das „wilde Tier” dem Menschen? Hat es ein Bewusstsein? usw. usf.
Auf dieser Basis ist Indien nicht zufällig der kulturelle Hintergrund für „Life of Pi”. Dieses Land, dessen hinduistischer Götterhimmel mit seinen 3,3 Millionen Göttern auch noch Jesus und Allah mit Leichtigkeit darin unterbringt, ist nach wie vor ein Beispiel par excellence für gelebte Alltags-Spiritualität.
Regisseur Ang Lee findet für diese außergewöhnliche Geschichte ebenso außergewöhnliche Bilder von ungeheurer Sogkraft und einer Magie, die das Herz ergreift und lange nach dem Kinobesuch nachwirkt.
Pi, inmitten eines Schwarms fliegender Fische. Aus einem durch fluoreszierende Quallen nächtlich erleuchtetem Meer erhebt sich ein riesiger Wal. Pi und Richard Parker, in einer von Pis Visionen, wie sie im Meer tief unten das gesunkene Schiff sehen, der Tiger dabei in seinen Augen ein uraltes Wissen, von dem wir Menschen ausgeschlossen sind.
Dies sind nur wenige Beispiele. Unglaublich auch die digitalen Animationen der Tiere, wo man auch bei sehr genauem Hinsehen kaum die Grenzen zwischen dem realen Tier und der digitalen Kreation erkennen kann.
Und all diese Bilder in perfekter 3D-Technik. Die nächtlichen Szenen sind sicherlich von „Avatar” inspiriert, der hier Maßstäbe gesetzt hat. Dennoch muss sich Ang Lee nicht hinter der Perfektion von James Cameron verstecken, da er selbst ein nahezu perfektionistischer Regisseur ist.
Nicht vergessen sein sollen die Darsteller. Ang Lee hat sich eine kleine, aber feine Riege vor allem indischer Schauspieler zusammengestellt. Mit dem Newcomer Suraj Sharma hat er den perfekten jungen Pi gefunden, mit Irrfan Khan (u.a. „Slumdog Millionaire”) und Tabu (u.a. „The Namesake”) hat er zwei indische Filmstars mit credits in westlichen Filmen besetzt, mit dem eher unspektakulären Engländer Rafe Spall („Anonymus”) dem Schriftsteller ein Gesicht gegeben.
„Life of Pi” ist ein „must see” nicht nur für den geübten Kinogänger, sondern auch für den gelegentlichen. Lassen Sie sich berühren von der Magie der Bilder und der Schönheit der Geschichte.
Apropos: Pi erzählt nach seiner Rettung noch eine alternative Version, weil die Herren von der Versicherung die ursprüngliche nicht glauben wollen. In dieser zweiten Version spielen Menschen die Hauptrollen. Was glauben Sie, für welche der beiden Versionen sich am Ende die beiden Herren entscheiden?
„Life of Pi”, US/Taiwan 2012, Regie: Ang Lee, 127 min.
© frida 2012